Der arbeitende Körper

Ein Tagungsbericht aus anthropofaktischer Perspektive, ergänzt um Eindrücke aus der Dortmunder DASA

Im Blickfeld: Arbeit am Körper

Am 13. und 14. November 2014 fand in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn die Tagung Der arbeitende Körper im Spannungsfeld von Krankheit und Gesundheit statt. Ein willkommener Rahmen, um den eigenen Forschungshorizont zu erweitern. Dieser hatte sich für das Anthropofakte-Projekt aus gegebenem Anlass im Jahr 2014 auf Prothetik im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg fokussiert. Durch die Tagung Mobilisierung des Körpers im März 2014 wurde deutlich, dass es in den Nachkriegsjahren vor allem um die Wiederherstellung der Arbeitskraft mit Hilfe von Prothesen ging. Dies legte den Grundstein für die weitere Beschäftigung mit der Prothetik im Spannungsfeld zwischen Kompensation und Optimierung von Körpern, wobei jedoch der Aspekt der Arbeit aus dem Blickfeld zu geraten drohte. Mit der Teilnahme an der Tagung des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung sollte die Arbeit, die maßgeblich an der Formung und Normierung von Körpern beteiligt ist, verstärkt in den Fokus unserer Forschungen gerückt werden: Nicht nur der vom Krieg versehrte Soldaten-Körper, auch die durch Arbeit veränderten und an Arbeitsleistung ausgerichteten Körper der Arbeiterinnen und Arbeiter fordern eine differenzierte Thematisierung – vielleicht umso mehr, da sie zwischen den Themen der Kriegsversehrtheit samt anschließender Rehabilitationsbestrebungen und gesamtgesellschaftlicher Biopolitik zu verschwinden scheinen. Ein Forum dafür wird im Rahmen unserer nächsten großen Tagung im März 2015 geboten werden, die sich unter dem Titel Just do it! der Leistung durch Prothetik widmet und in einem Panel das Verhältnis von Arbeit, Körper und Prothetik zur Sichtbarkeit verhilft.

Auf der Tagung: Einzelne Bausteine der Körpergeschichte

Aus dieser stark projekt- und themenzentrierten Perspektive heraus ließen sich aus der Tagung Der arbeitende Körper einige erhellende Einsichten gewinnen, wenn auch – so viel sei bereits verraten – Prothesen, zumindest im engeren Sinne, keine Erwähnung fanden. Dennoch lieferten viele der Beiträge wichtige Ansatzpunkte für unsere Arbeit. So referierte Stefanie Coché (Köln) zum Thema »Arbeit und Gesundheit in der Psychiatrischen Einweisungspraxis 1941‐1963« und zeichnete durch die Auswertung von institutionellen Protokollen und persönlichen Tagebüchern von Psychatrie-Patient_innen die Konzeptionierung der eigenen Lebensfähigkeit und -wertigkeit über die Fähigkeit zur Arbeit nach. Diese Arbeitsfähigkeit wurde sowohl für das medizinische Personal als auch für die Betroffenen zum Indikator für medizinische Gesundheit und in Konsequenz zum Feedback für die Eigenwahrnehmung psychischer (Un)versehrtheit und Zuordnung sozialer Rollen. Dies wurde beispielsweise durch Zitate wie »Weil ich mit meiner Arbeit nicht mehr fertig wurde, versuchte ich mir die Pulsadern aufzuschneiden« deutlich. Dieser kaum überraschende Zusammenhang, der bei Kriegsversehrten bereits an vielen Stellen ausbuchstabiert wurde, wurde damit um die wichtigen, aber weniger sichtbaren Facetten einerseits der psychischen Krankheit und andererseits der zivil arbeitenden Frauen bereichert.

Wie verknüpft Krieg und Arbeit und deren Einschreibungen in den Körper gedacht werden können, zeigten Ylva Söderfeldt (Aachen) und Mathilda Svensson (Lund), die in ihrem Beitrag »Opfer der Arbeit, Opfer des Schicksals« unter anderem auf den Internationalen Bund der Opfer des Krieges und der Arbeit (IB) aufmerksam machten. Der sozialistische Verband, der 1919 gegründet und 1933 durch die Nationalsozialisten zerschlagen wurde, organisierte neben Kriegsbeschädigten auch Unfall-, Invaliden- und Sozialrentner sowie Tumultbeschädigte und ihre jeweiligen Hinterbliebenen. Ziel des Bundes war die Pflege des Klassenbewusstseins und die Wahrnehmung der Interessen von Opfern von kapitalistischer Ausbeutung, sei sie wirtschaftlicher oder militärischer Art.1 Durch das gemeinsame Stigma der Arbeitsunfähigkeit markiert, begriff sich der IB dennoch der Arbeiterbewegung zugehörig. Die Tatsache, dass die Quellenlage zum IB zwar gut scheint, jedoch noch recht unerforscht im Bundesarchiv lagert, bestätigt den Verdacht der Forschungslücke, die es zum Thema des arbeitenden Körpers historisch zu schließen gilt.
Sebastian Weinert (Berlin) stellte seine Forschungen zum Thema »Arbeit und Gesundheit auf den deutschen Hygiene‐Ausstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« vor und erläuterte damit die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom kranken Körper zum präventiven Selbst in der öffentlichen Kommunikation und Wahrnehmung. Die Propagierung einer »individuellen Hygiene« kann einerseits als Disziplinierungsmaßnahme gesehen werden, andererseits ging damit auch eine Demokratisierung von Expertenwissen einher. Nina Kleinöder (Düsseldorf) sprach über die »IG Metall und den Arbeitsschutz zwischen den 1950er und 1970er Jahren« und damit über die Figur des selbstverantwortlichen Arbeiters und die zunehmende Bemühung um Unfallprävention in den Betrieben. In ihrem Vortrag »Reproduktionsregime und Regulation des arbeitenden Körpers« erweiterte Stephanie Rose (Flensburg) den Reproduktionszusammenhang von Erwerbsarbeit und Fürsorgearbeit um den Aspekt der Selbstsorge und stellte damit gleichzeitig dem Begriff der zu regenerierenden Arbeitskraft den der sich jeglicher Verwertungslogiken entziehenden »Lebenskraft« gegenüber, was für lebhafte Diskussionen sorgte.

Insgesamt waren die Vorträge der Tagung stark von historischen Einzelbeispielen geprägt: Karl Lauschke (Dortmund) referierte zur Ermüdungsforschung des Kaiser‐Wilhelm‐Instituts für Arbeitsphysiologie und stellte im Zuge dessen die an Effizienz ausgerichtete Forschungspraxis physiologischer Rationalisierung vor. Außerdem habe es auch einen alternativen Forschungszweig der Arbeitswissenschaften gegeben, der das persönliche Wohlbefinden und die Arbeitsleistung als hochkomplexen, multikausalen Zusammenhang dachte und dessen Grundgedanke lautete, dass sich die Arbeitsbedingungen an den Menschen anpassen müssten und nicht umgekehrt. Dieser vielversprechende Ansatz geriet beinahe in Vergessenheit, da die oft jüdischen Wissenschaftler, repräsentiert durch den Psychologen Otto Lipmann, von den Nationalsozialisten zur Emigration gezwungen oder deportiert wurden.

Im Rückblick: Eine Konstruktionszeichnung der Körpergeschichte?

Wie Mosaiksteine reihten sich die vielgestaltigen und spezialisierten Beiträge aneinander – die Leistung, die präsentierten Themen zu einem Gesamtbild zu vereinen, blieb jedoch in der Verantwortung jedes und jeder Tagungsteilnehmer_in. Theoretische Zugänge wurden allein zu Beginn in den einführenden Beiträgen von Jürgen Mittag (Köln) und anschließend in einem die Debatte in einen philosophischen und kulturhistorischen Horizont einbettendenen Beitrag von Wolfgang Hien (Bremen) gelegt. Umfassendere Kontextualisierungen wurden oftmals in Randbemerkungen der lebhaften Diskussionen angeregt, aber selten verfolgt.

In der abschließenden Diskussion wurde diese Theorieskepsis einerseits begrüßt, denn, so der Tenor, dadurch bliebe die Diskussion differenziert und säße keiner Großerzählung auf. Andererseits wurde kritisiert, dass ohne einen solchen Rahmen die einzelnen Themen an Relevanz einbüßten. Insgesamt gehörte die Markierung der Lücken in der Abschlussdiskussion zu den erhellendsten und spannendsten Erkenntnissen der Tagung: So beschränkte sich das Blickfeld der Beiträge hauptsächlich auf die Geschichte Westdeutschlands und überquerte nur an wenigen Punkten die ehemalige innerdeutsche Grenze. Auffällig war auch, dass trotz Tagungstitel der Körper eine untergeordnete Rolle spielte. Vielmehr stand dessen Konzeption und der institutionelle Umgang mit Gesundheitskonzeptionen im Vordergrund. Diese Sichtweise liegt strukturell in der Quellenlage begründet. Ereignisse und Prozesse innerhalb von Parteien, Gewerkschaften, Instituten und anderen Institutionen wurden häufiger dokumentiert und sind für die Forschung systematisch erschließbar, wohingegen die Geschichte der tatsächlich arbeitenden Körper eine oral history ist, die sich häufig nur durch ihre Widerspiegelungen in medizinischen, journalistischen oder betrieblichen Schriftstücken zeigt. Hierin besteht die Herausforderung für das Schreiben von Körpergeschichte. Um ihr gerecht zu werden, muss sozusagen um die Ecke gedacht werden: Entweder muss aus Textdokumenten auf den Alltag der Körper geschlossen werden oder es gilt, zeitgenössische oral history zu erschließen, bspw. durch Zeitzeug_innen-Projekte, wie sie derzeit auch in der Friedrich-Ebert-Stiftung hinsichtlich Gewerkschaftsgeschichte durchgeführt werden. Ein anderer Ansatz, der Ansatz des Anthropofakte-Projektes, ist die Beforschung der Dinge, also der Alltagsobjekte. Körpernahe Objekte wie Prothesen, die die Körper ihrer Nutzenden überdauerten, erzählen durch ihre Materialität etwas über ihre_n Träger_in und aus ihren Spuren lassen sich, so die Hoffnung, ähnlich wie aus einem Tagebucheintrag körper- und alltagsgeschichtliche Erkenntnisse über ihre Träger_innen gewinnen.

Im Museum: Der arbeitende Körper im Spiegel der Dinge

Mit dieser Erkenntnis und geschärft durch unsere Kooperation mit dem Deutschen Hygiene Museum in Dresden und dessen Ausstellungspraktiken schlossen wir an die Tagung in Bonn einen Besuch der DASA, der Deutschen Arbeitsschutz-Ausstellung in Dortmund an. Würden uns hier die Objekte etwas mehr über die Geschichte des arbeitenden Körpers verraten? Grund für unser Interesse war auch die aktuelle Sonderausstellung Schöne schlaue Arbeitswelt, die über Ambient Intelligence informieren möchte: Optimierung der Arbeit durch intelligente Schutzanzüge, Beleuchtung und Datenbrillen. Dadurch konnte ein Bogen von der historisch ausgerichteten Tagung in Bonn in die nahe Zukunft geschlagen werden.

Auch auf der DASA wurden nur wenige Körper gezeigt, allerdings kann die Ausstellung dennoch als überaus körperlich gedacht beschrieben werden: als Besucher_in ist man selbst der präsente Körper, auf den die körpernormierenden, körperschützenden, körpervermessenden Installationen interaktiv einwirken. Mit dieser individuellen Wirkung im Vordergrund war also auch hier eine theoretische Einbettung mehr als zurückhaltend, was aber keinesfalls als Kritik verstanden werden sollte. Es ist die naheliegende Konsequenz der Ausrichtung der Ausstellung. Wenig überraschend konnten wir auch auf der DASA in Sachen Prothesen kaum fündig werden – schließlich soll der Arbeitsschutz einen möglichen Unfall mit anschließender Prothesennutzung vermeiden. Die Ausstellung mit einem weiten Prothesenbegriff durchschreitend, ließen sich dennoch einige Aspekte festmachen. So sind es Prothesen wie Rollstühle und Rollatoren, die Pflegekräfte bei ihrer Arbeit unterstützen und so berufsbedingten Rückenschäden vorbeugen können. Datenbrillen, intelligente Schutzanzüge, ergonomische Stühle als entfernte Verwandte von Orthesen; all diese Objekte zur Optimierung und Erweiterung körperlicher Fähigkeiten als Reaktion auf eine sich verändernde Arbeits- und Lebenswelt machten deutlich, dass sich hier eine interessante Schnittstelle präsentierte, die es für uns zu erforschen gilt: Die Schnittstelle von krankem Körper zum präventiven Selbst, die Verschiebung von Prothetik und Prävention.

  • 1. Michael Zander und Thomas Wagner (2009): Invaliden, Taubstumme, Tumultbeschädigte. Der »Internationale Bund der Opfer des Krieges und der Arbeit« (1919–1933), junge Welt, 19. August 2009