Superabled. Technisches Enhancement durch Prothetik
Bericht zum interdisziplinären Workshop am 23./24.6.2014 in Freiburg
Die technische Erweiterung des menschlichen Körpers und die damit verbundenen Ängste und Hoffnungen sind nicht neu. Jedoch scheinen sich mit heutigem Stand der Technik neue Möglichkeiten zu eröffnen. Wo sich das Aufgabenfeld der Prothetik ehemals durch die Schaffung möglichst guter Ersatzteile definierte, stellt sich nun die Frage nach Produkten, die besser sind als das Original – aus Kompensation wird Enhancement. Die Schnittstellen zwischen Mensch und Technik wandern von der Hautoberfläche in den Körper hinein und verschalten diesen mit technischen Artefakten, die buchstäblich unter die Haut gehen. In insgesamt fünf Panels und einer öffentlichen Abendveranstaltung diskutierten Veranstalter_innen, Referent_innen und Teilnehmende des interdisziplinären Workshops die streitbare These der zunehmenden technischen Erweiterung und Optimierung des Menschen zwischen Utopie, Dystopie und technischer Machbarkeit aus unterschiedlichen Perspektiven und legten so gemeinsam neuralgische Punkte des Diskurses um vermeintliche Maschinen- und Übermenschen frei.
Im ersten Panel wurde prothetisches Enhancement zunächst aus ethischer Perspektive beleuchtet. JOACHIM BOLDT (Freiburg) gab einen Abriss über die verschiedenen Für- und Gegenargumente, die die derzeitigen ethischen Diskussionen um Enhancement prägen. Fürsprecher_innen würden dabei meist aus einer angelsächsischen, utilitaristischen Tradition heraus argumentieren: Das derzeitige Enhancement durch Prothesen, Implantate oder Pharmazeutika sei lediglich Teil einer langen Geschichten der Selbstverbesserung und außerdem lasse es sich durch einen erhöhten gesellschaftlichen Gesamtnutzen rechtfertigen. Bezüglich der Gegenargumente ging Boldt vor allem auf den Authentizitätseinwand ein und schloss daran die Frage an, inwiefern überhaupt von einem »authentischen Selbst« gesprochen werden könne, auf das das Enhancement ethisch fragwürdige Effekte hätte. In einer Synthese kam Boldt zu dem Schluss, das Selbstverbesserung nur zu befürworten sei, wenn damit eine Veränderung der Lebenssituation einhergeht. Oft bedeute Enhancement aber ein Ausweichen vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit. Auch im folgenden Beitrag »Babies in bottles« von TATJANA TÖMMEL (Berlin) wurde klar, dass die ethische Debatte darüber, unter welchen Bedingungen menschliches Leben erschaffen werden darf, nicht losgelöst von ihrer politischen Dimension betrachtet werden kann. Tömmel skizzierte den aktuellen Forschungsstand zunächst dahingehend, dass eine vollständige Reifung eines Embryos ex vivo auch innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht möglich sein wird, sich aber die Zeit, die ein Fötus bisher in der Gebärmutter verbracht hat, mittlerweile – durch künstliche Einpflanzung und vorzeitige Entnahme – nahezu halbiert hat. Die angestrebte Ektogenese, also die Loslösung der Zeugung und Reifung eines Embryos vom weiblichen Körper, deutete Tömmel als eine Umkehrung der Prothesenlogik: In diesem Falle würden Organfunktionen nicht ersetzt oder erweitert, sondern beispielsweise durch eine künstliche Gebärmutter ausgelagert. Die derzeit ansteigenden Zahlen der Leihmutterschaft lasse eine Nachfrage bezüglich dieser Praxis vermuten. Gegensprecher_innen führen an dieser Stelle die Notwendigkeit und Einzigartigkeit der prä- und postnatalen Mutter-Kind-Beziehung ins Feld. Genau dieses Spannungsfeld wurde anschließend vom Publikum diskutiert und führte zu dem Schluss, dass der eigentlich spannende Punkt an der Ektogenese-Forschung die darin enthaltenen Allmachtsphantasien der Menschen und deren zunehmend technisches Verständnis von Körpern sei.
»Schneller, weiter, besser. Optimierung durch Prothesen?« lautete die Leitfrage des zweiten Panels, das EVA SCHNEIDER (Berlin) mit ihrem Beitrag über Rennprothesen im Spitzensport eröffnete. Schneider ließ an der Frage »Kompensation oder Technodoping?« das paradoxe Spannungsfeld der Leistung zwischen Chancengleichheit und Konkurrenz kondensieren, indem sie den Fall des medial omnipräsenten Karbonprothesen-Sprinters Oscar Pistorius und die im Rahmen von Olympia durchgeführten Geschlechtertests analysierte und theoretisch verortete. So fuße der sportliche Wettkampf auf Quantifizierung von Leistung, Schaffung von objektiven Leistungsmaßstäben und Bildung von Leistungsklassen zur Gewährleistung von Fairness einerseits und der Leistungsdifferenz als genuine Voraussetzung von Wettbewerbssport andererseits. Die Problematik der Komparation und der Fairness im Bereich des prothetischen Sports scheine so vor allem das sichtbar zu machen, was an Paradoxie im sportlichen Messen bereits angelegt sei, nämlich die Gleichmachung von Nicht-Gleichem. Daran anschließend fragte CHRISTOPH ASMUTH (Berlin) »Was sagt ›Extended Mind‹ über uns?« und markierte so nicht die Theorie selbst, sondern deren zu Grunde liegende Weltvorstellungen und Körperverständnisse als eigentlich relevante Gegenstände des Diskurses. Dabei attestierte er, der aktuell geführte Diskurs über ›Embodiment‹ und ›Extended Mind‹ sei mehrfach der Verführung der Verwechslung erlegen und bringe so durch Kategorienfehler und unreflektierte Reduktion des Qualitativen auf das Quantitative verzerrte Aussagen, inkonsistente Begriffe und falsche Schlüsse hervor.
Das letzte Panel des ersten Workshoptages wurde mit zwei Vorträgen zu Hörprothesen gefüllt. Unter dem Titel »Kontrolliertes Hören« präsentierte MARIA DILLSCHNITTER (Lübeck) ihre Forschungsergebnisse bezüglich des Prozesses der Hörgerätanpassung. Sie untersuchte, inwiefern das Hörgerät an sich als Akteur gelten kann und der/die Hörakustiker_in als Vermittler_in auftritt. Sie kam zu dem Schluss, dass hier Enhancement in Interaktion stattfindet und als Zuschreibungsprozess von Handlungsträgerschaften gelesen werden kann. Die Hörgerätanpassung bewege sich somit zwischen Autonomieverlust einerseits und der Kontrolle verschiedener Akteure andererseits. Anschließend beleuchteten BEATE OCHSNER und ROBERT STOCK (Konstanz) das Cochlea-Implantat (CI) aus medienwissenschaftlicher Perspektive. Sie beobachteten, dass das CI zunehmend vom medizinischen Hilfsmittel zum Lifestyle-Produkt avanciert und weniger die Verständigung mit Hörenden, sondern vielmehr die Optimierung von Musikwahrnehmung und die Konnektivität zu digitalen Endgeräten wie Smartphone oder FM-Systemen bei der Vermarktung der Geräte im Vordergrund stehen. Patient_innen würden zu Kund_innen, die kapitalistische Logik suche auch hier nach weiteren Absatzmärkten.
Die öffentliche Abendveranstaltung mit ALEXANDER GÖRSDORF bereicherte die am Tage medienphilosophisch, ethisch und technikphilosophisch reflektierenden Diskussionen um einen Einblick in die oft komischen und für Nichtbetroffene überraschenden Alltagserlebnisse eines guten Lebens mit schlechtem Ton. Görsdorf, Autor des Blogs »Not quite like Beethoven«, las autobiografische Geschichten aus seinem Buch »Taube Nuss. Nichtgehörtes aus dem Leben eines Schwerhörigen« aus der Zeit vor und nach Erhalt eines Cochlea-Implantats.
Der zweite Workshoptag begann mit einem Panel zur »Prävention durch Prothetik«. ULRICH BRÖCKLING (Freiburg) stellte unterschiedliche Regime der Prävention vor und fragte nach der Bedeutung von Prothesen im Rahmen vorbeugender Maßnahmen. So könne beispielsweise im Hygiene-Regime, in dem es um die Verhütung von Infektionskrankheiten geht, das Kondom als sexualhygienische Prothese gelten. Ein ausgeprägter Vorbeugungsmodus, in dem der imaginierte Notfall immer präsent, das eigentliche Risiko aber nicht klar ist, sei derzeit allgegenwärtig und bringe Produkte wie beispielsweise Bewegungsmelder für Babybetten hervor, durch die der plötzliche Kindstod verhindert werden soll. STEFANIE DUTTWEILER (Frankfurt am Main) widmete sich einem weiteren aktuellen Phänomen und beschrieb »Self-Tracking Gadgets als Prothesen des Eigensinns«. Ihre These lautete, dass durch das Messen, Speichern und Auswerten der Daten von verschiedenen Körperfunktionen und -aktivitäten eine Erweiterung der Sinnesorgane stattfinde, zum Beispiel dadurch, dass die Sensoren auch Informationen, die außerhalb unseres Bewusstseins liegen, sammeln können. So entstehe ein »neuer Sinn« für unsere körperlichen Zustände und zugleich eine Prothese zur Kompensation unseres »schwachen Willens«. Die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen sowie moralischen Appelle seien bereits in der Software eingeschrieben und durch Belohnungssysteme und die Veröffentlichung der Daten in sozialen Netzwerken funktioniere die Verhaltensänderung bzw. Selbstoptimierung im Sinne der Gamification durch »Spiel und Spaß«, das Messen beeinflusse schließlich das zu Messende.
Im letzten Panel »Miniaturisierung und Digitalisierung in der Neuroprothetik« wurde das Diskussionsfeld durch Perspektiven der aktuellen neurotechnologischen Forschungspraxis bereichert. ULRICH EGERT (Freiburg) eröffnete das Panel mit der Vorstellung des in Freiburg angesiedelten Exzellenzclusters »BrainLinks-BrainTools«, der sich die Entwicklung von assistierenden Geräten bei größtmöglicher Autonomie der Technik und kleinstmöglichem Aufwand für die Patient_innen zum Ziel gesetzt hat. Größte Herausforderung der Neuroprothetik sei, so Egert, die Schnittstelle zwischen Mensch und Technik, konkret: zwischen Nerven und technischen Systemen. Dies wurde ebenfalls durch JUAN ORDONEZ (Freiburg) im zweiten Beitrag des Panels bestätigt. Ordonez gewährte einen Einblick in die Arbeit seiner Forschungsgruppe, die sich mit dem Problem der Miniaturisierung von Prothesen, insbesondere von Implantaten beschäftigt. Hierbei stehe nicht unbedingt die Funktionsweise, sondern die Suche nach geeigneten bzw. die Entwicklung neuer Materialien im Vordergrund. Beide Beiträge konterkarierten durch die Darlegung der ungeheuren Komplexität des Forschungsfeldes und den tatsächlichen Stand der Technik das in der öffentlichen Wahrnehmung und einigen vorhergehenden Beiträgen gezeichneten Bild des rasanten Fortschritts vom Menschen zum Cyborg.
Als Veranstaltung im Rahmen des Verbundprojektes »Anthropofakte. Schnittstelle Mensch« gelang es den Veranstalter_innen, Redner_innen und Teilnehmenden, multiple Aspekte des technischen Enhancements kaleidoskopisch zu betrachten und zu diskutieren. Im regen Austausch wurden, nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität der Beiträge, einige Fragen und Probleme verdichtet und für die künftige Forschung schärfer und greifbarer gemacht. So konnte beispielsweise der titelgebende Begriff ›Enhancement‹ der kritischen Befragung »Was ist gut, was ist besser?« kaum standhalten und wurde so als ideologischer Ausdruck gesellschaftlicher Normativität diskutiert. Dies schuf die Möglichkeit, ethische Diskussionen um eine möglichst gerechte vermeintliche Verbesserung um die politische Frage nach den im Enhancement impliziten Normen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Gestaltung der Arbeitswelt, kritisch zu erweitern. Damit einhergehend kehrte in den Diskussionen häufig die Problematik des stillschweigenden Gleichmachens des Nicht-Gleichen wieder, das insbesondere bei der Bewertung von Leistung stattfindet. Mit diesem Fokus ist bereits die Brücke zur nächsten Tagung des Projekts »Anthropofakte« geschlagen, die sich im März 2015 dem Prinzip der Leistung widmen wird.
Konferenzübersicht
Montag, 23. Juni 2014
Begrüßung
- Sybilla Nikolow (Freiburg/Berlin), Christoph Asmuth (Berlin)
Panel 1: Prothetisches Enhancement aus ethischer Perspektive.
- Joachim Boldt (Freiburg): Wie gut ist besser? Ethische Fragen des prothetischen Enhancements
- Tatjana Noemi Tömmel (Berlin): »Babies in bottles« – Erlösung vom Körper oder Entfremdung vom Leib?
Panel 2: Schneller, weiter, besser. Optimierung durch Prothesen?
- Eva Schneider (Berlin): Rennprothesen im Spitzensport: Kompensation oder Technodoping?
- Christoph Asmuth (Berlin): Upload Completed. Was sagt ›Extendend Mind‹ über uns?
Panel 3: Anpassung von Mensch und Technik: Hörprothesen
- Maria Dillschnitter (Lübeck): Kontrolliertes Hören. Wie Hörgeräteakustiker, schwerhörige Personen und Hörgeräte in soziotechnischen Ensembles die Möglichkeiten des Hörens bestimmen
- Beate Ochsner/Robert Stock (Konstanz): Schnittstellen zwischen Hören und Nicht-Hören – das CI als Quasi-Objekt
Panel 4: Öffentliche Abendveranstaltung
- Lesung mit Alexander Görsdorf: Taube Nuss. Nichtgehörtes aus dem Leben eines Schwerhörigen.
Dienstag, 24. Juni 2014
Panel 5: »Kontrolle ist besser«. Prävention durch Prothetik
- Ulrich Bröckling (Freiburg): Prothetik und Prävention
- Stefanie Duttweiler (Frankfurt am Main): Self-Tracking Gadgets als Prothesen des Eigen-Sinns
Panel 6: Miniaturisierung und Digitalisierung in der Neuroprothetik
- Ulrich Egert (Freiburg): BrainLinks-BrainTools
- Juan Ordonez (Freiburg): Mikrosysteame in der Neuroprothetik
Tagungsfazit
- Christoph Asmuth (Berlin) und Sybilla Nikolow (Freiburg)