Wer hat Angst vor Markus Rehm?
Reflexionen über Inklusion und Exklusion im professionalisierten Sport
Mit dem Sport ist es eine eigenartige Sache. Die eine treibt ihn der Gesundheit, die andere des Vergnügens wegen. Für die eine macht er Spaß, für den anderen ist er die wichtigste Nebensache der Welt. Wir alle dürften uns einig sein, dass es die artgerechte Haltung nicht nur für Rinder, Schweine und Hühner geben sollte, sondern auch für uns Menschen. Folglich gehört angemessen körperliche Bewegung für uns zu einer der wichtigsten Aufgaben – dies schon allein aus Sorge um uns selbst. Bewegung ist gesund und für gesunde Menschen Vergnügen und Lust. Dafür sorgt, dass der Sport häufig mit spielerischen oder tänzerischen Momenten verbunden ist. Wir treiben Sport in Gruppen, so dass Sport eine gemeinschaftsbildende Funktion hat. Der Wettstreit und der Wettkampf in einer Gemeinschaft ist das Paradigma des Sports.
Der Fall Markus Rehm
Bereits das Dopingproblem signalisiert dagegen eine schwerwiegende Störung. Etwas stimmt nicht mit dem Sport. Eigenartig, dass sich diese harmlose, vergnügliche Sache nun derart problematisch darstellt.1 Mein Beitrag wird die These zu erhärten versuchen, dass es das Leistungsprinzip ist, dass den Sport schwer unter Druck setzt, und zwar dann, wenn Leistung mit enormen wirtschaftlichen Interessen verschmolzen wird.2 Dies trifft letztlich auch auf den sogenannten Behindertensport zu. Markus Rehm ist ein prominentes Beispiel für die seltsamen Verwerfungen, die den Sport verändern und längst verändert haben. Markus Rehm, der einseitig unterschenkelamputierte Sportler und Goldmedalliengewinner der Paralympics in London, gewann am 26. Juli 2014 mit einer Weite von 8,24 Metern die Deutsche Meisterschaft der nichtbehinderten Sportler im Weitsprung, und zwar mit einer speziellen Carbonprothese. Dieses Ergebnis reichte für die Qualifikation für die Europameisterschaften der Nichtbehinderten. Am 30. Juli 2014 entschied der Deutsche Leichtathletik-Verband jedoch, dass Rehm nicht an den Europameisterschaften 2014 teilnehmen dürfe, weil ihm die Prothese einen Leistungsvorsprung verschaffe. Der Vorgang wurde medial breit diskutiert, denn er zeigt ein Grundproblem des Sports auf, nämlich das Problem von Inklusion und Exklusion.
Die Werte des Sports
Leistung zählt – neben Natürlichkeit, Gesundheit und Fairness – zu den Werten des Sports. Was es mit diesen Werten auf sich hat, ist ziemlich undurchsichtig. Sie werden beispielsweise im Anti-Doping-Code der WADA aufgeführt. Aus einer unbedarften – oder sagen wir gewöhnlichen – Sicht der Dinge ist diese Aufzählung irgendwie schlüssig, wenn auch nicht trennscharf. Sie zeichnet ein Bild, das für den Breitensport lange Zeit Gültigkeit hatte. Es ging darum, in mehr oder minder natürlichen Bewegungsabläufen und Spielsituationen eine sportliche Leistung zu erbringen, Wettkampf und Selbsterfahrung miteinander zu kombinieren. Dabei stand der gesundheitliche Aspekte zwar nicht im Vordergrund, war aber eine durchaus präsente Größe. Der Sportler sollte fair sein; nicht nur die Regeln befolgen, sondern auch seinen Gegner achten, nicht nur höflich sein, auch uneigennützig und doch zugleich ehrgeizig sein. Für viele von uns, die Sport treiben, dürfte das auch heute noch die Regel sein. Wir akzeptieren im Großen und Ganzen diesen Wertekanon und erfahren und praktizieren Sport in dieser Weise.
Das ist der Grund, weswegen diese Werte ins Spiel kommen, sobald der gesellschaftliche Nutzen des Sports hervorgehoben wird. Regeln erlernen und befolgen wird als eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe des Sports hervorgehoben. Der Sport hat eine sozial-integrative Funktion. Randgruppen werden einbezogen. Das Miteinander wird akzentuiert: ›Im Verein ist Sport am schönsten.‹
Medialer Sport
Freilich ist die Situation heute dadurch kompliziert geworden, dass sich neben der primären Ebene des Sports, in der Sport einfach ausgeübt wird, eine weitere Ebene etabliert hat, in der dem Sport zugeschaut und über den Sport berichtet wird. Und neben dieser gibt eine dritte Ebene, in der Sport vermarktet wird und in der die Werbewirtschaft eine große Rolle spielt. Über das Verhältnis dieser drei Ebenen zueinander lässt sich feststellen, dass die zweite und dritte Ebene von der ersten abhängig sind. Es ergibt sich eine logische Hierarchie: Es kann nur eine Berichterstattung über Sport geben, wenn Sport auch ausgeübt wird. Sport kann nur vermarktet werden, wenn ein Sportereignis stattfindet und darüber auch berichtet wird.
Diese Hierarchie hat sich heutzutage umgekehrt – betrachtet man die Machtverhältnisse der einzelnen Agenten im Sport. Die wirtschaftliche Verwertbarkeit bestimmt längst, wie, wann, wie lange und wie oft Sportereignisse stattfinden. Die Sportberichterstattung ist weitgehend in die Verwertungsprozesse des Sports eingebettet. Der Sport richtet sich nach den Medien, die darüber berichten. Die Medien richten sich nach der Sportvermarktung. Obwohl es weiterhin Breitensport gibt, in dem Sport nur einfach ausgeübt wird, kommt den beiden anderen Ebenen ein immer größeres Gewicht zu – nicht nur im sogenannten »Großen Sport«, sondern auch im Breitensport.
Diese Auffächerung betrifft längst auch den Behindertensport. Fragen der Inklusion und Exklusion werden nicht mehr nur im Ortsverein ausgetragen, sondern auch auf der großen Bühne internationaler Sportereignisse.
Sport und Augenblick
Die erste These: Das Sportprodukt hat eine beispielhafte Struktur. Es lässt sich nur in einem einzigen Augenblick in ein Wirtschaftsgut verwandeln und ist deshalb das Paradigma für eine extrem beschleunigte, konsumorientierte Leistungsgesellschaft.
In der Sportbranche wird heute viel Geld verdient, sehr viel Geld. Der Sport ist ein veritabler Wirtschaftszweig. Dazu nur ein paar Zahlen: Die FIFA, das ist der Weltfußballverband mit Sitz in Zürich, konnte 2013 einen Gesamtertrag von rund 1 Milliarde Euro ausweisen. Allein die ARD, eine öffentliche Sendeanstalt, gab 2012 für Sportrechte 1 Milliarde Euro für die aktuelle Gebührenperiode aus. SKY Deutschland sicherte sich die vierjährigen Bundesligarechte für 2,5 Milliarden Euro. Für fünf Jahre Übertragungsrechte an der Premier League soll SKY UK im Februar diesen Jahres den Rekordpreis von 7 Milliarden Euro gezahlt haben. Eine Studie kam 2012 zu dem Ergebnis, dass im Spitzen- und Breitensport im Bereich Werbung für Rechte an Medieninhalten und Sponsoring bereits 2010 ca. 5,5 Milliarden Euro in Deutschland ausgegeben wurden.3 Die gezahlten Summen werden größtenteils in die Sportindustrie zurückgepumpt und erhöhen dort die Wettbewerbssituation.
Im Gegensatz zu unseren braven Alltagssportlern und -sportlerinnen, die nur eine artgerechte Selbsthaltung beabsichtigen, gerät die professionelle und semiprofessionelle Sportbranche unter eine enorme Leistungsanforderung. Das Geld übt Druck aus auf die Institutionen, Vermarkter und Sportler. Für den Sieger werden hohe Preisgelder ausgelobt. Spieler werden für Millionen-, gar Milliardensummen transferiert und sind mehrfache Gehaltsmillionäre. An den direkten Sportumsätzen hängen hochdotierte Werbeverträge. Auf der ganzen Welt werden Wetten auf Sportereignisse abgeschlossen.
Hier stellt sich die Frage, womit in der Sportbranche eigentlich gehandelt wird. Tatsächlich scheint es um eine eigenartige Dienstleistung zu gehen. Im weitesten Sinne gehört sie sicher zur Unterhaltungsbranche. Bei Unterhaltungsfilmen, Shows, Soaps und Serials, die unsere Fernsehkanäle besiedeln, ist es normalerweise von untergeordneter Bedeutung, ob ich mir die Erstausstrahlung ansehe oder eine Wiederholung. Beim Sport ist das anders. Es mag Menschen geben, die sich ein Fußballspiel auch dann noch anschauen, wenn sie das Ergebnis bereits kennen. Frei nach Sepp Herberger gilt aber: »Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.« Sieg und Niederlage bilden die bipolare Logik des Sports. Sie ist enorm simpel, wenig störanfällig, schnell nachzuvollziehen und meist gut durch Fernsehen und Rundfunk aufzubereiten. Das gilt vor allem, seit die Live-Berichterstattung zum alles dominierenden Modus der Berichterstattung aufgestiegen ist. Die Sportschau, die in ferner Vergangenheit am Samstag im Vorabendprogramm die Bilder der Fußballbundesliga zeigte und vor der sich ganz Fußball-Deutschland samstäglich versammelte, verlor 1988 die Übertragungsrechte an einen Privatsender. Die ARD war im Rennen um die Rechte überboten worden. Bis 1988 zahlte die ARD pro Jahr 18 Millionen DM, RTL zahlte nun 135 Millionen DM an den DFB. Heute werden alle Spiele der 1. und 2. Bundesliga live auf SKY gezeigt. Das Sportprodukt »Bundesliga« wird zum überwiegenden Teil sofort vermarktet und konsumiert. Life is live!
Diese Fakten sind von großer Bedeutung für das Produkt ›Sport‹, das vermarktet wird. Nicht nur die schiere Menge Geldes macht die Angelegenheit prekär; es geht auch um die Art des Produkts. Dieses Produkt ist nämlich extrem schnelllebig. Es wird konsumiert, in dem Augenblick, in dem es entsteht. Ein Sportevent ist absolut leicht verderbliche Ware. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist das Höchsthaltbarkeitsdatum; es ist der Jetztzeitpunkt des Events. Das Sportereignis wird sofort verbraucht. Ein 100m-Lauf ist nach 10 Sekunden beendet. Der Sieger steht fest. Die bipolare Logik hat sich erfüllt. Es kann nur einen geben – den Sieger. Es ist dieser Augenblick, in dem die Wertschöpfung stattfindet, es ist derselbe Augenblick, in der die Leistung erbracht wird und die Dienstleistung konsumiert wird. Die Zuspitzung auf diesen Augenblick des Sieges, des Siegtores, des Matchballs, des Zieleinlaufs, dieser eine Sprung, der eine Moment des perfekten Bewegungsablaufs oder der Kraftausübung ist die Magie des Sports – und der einzige Augenblick, in dem die sportliche Leistung in wirtschaftlichen Erfolg verwandelt werden kann. Es ist ein Zeitpunkt höchster Dramaturgie. Dieser Augenblick darf nicht verpasst, nicht ge- und nicht zerstört werden, denn er ist das Zentrum, um das sich die ganze Sportbranche dreht. Zusammengefasst: Das Sportprodukt ist durch ganz gegensätzliche Aspekte konstituiert: Die Live-Übertragung ist überall, global, ubiquitär, aber besteht nur einen einzigen Augenblick lang, nur im singulären Jetzt. Die Wertschöpfung ist zeitlich minimal, aber räumlich maximal. Die Logik des Sportprodukts ist einfach und absolut unempfindlich. Der Augenblick, in dem die sportliche Leistung in ein Wirtschaftsgut verwandelt wird, ist dagegen höchst komplex und absolut prekär.
Sport und Authentizität
Die zweite These: Die sportliche Leistung muss echt sein. Authentizität der Leistung validiert das Sportprodukt.
Mögliche Störungen des magischen Augenblicks, der die sportliche Leistung in ein wirtschaftlich verwertbares Produkt verwandelt, müssen peinlichst vermieden werden. Dazu gehört unbedingt, dass dieser Augenblick seine Authentizität und damit seine Aura bewahren muss. Denn nur eine authentische Leistung wird der Dramatisierung des sportlichen Augenblicks gerecht. Der Sportler muss seine Leistung selbst erbracht haben; er geht dabei bis an seine Leistungsgrenzen: Ein ›Triumph des Willens‹. Der Schutz der Authentizität und der Unmittelbarkeit der Leistungserbringung schlägt sich in vielen Bereichen nieder.4
Zum Beispiel in der Verpönung des Dopings, d. h. einer verbotenen medizinischen Intervention. Die Rigorosität, mit der die Sportbranche gegen das Doping auftritt bis hin zu Anstrengungen, Doping zu kriminalisieren, zeugen von der Aufmerksamkeit, die der Authentizität des sportlichen Augenblicks geschenkt wird.5
Sport und gesellschaftlicher Fortschritt
Die dritte These: Der Sport richtet sich strukturell gegen gesellschaftliche Veränderung und Erneuerung. Der Grund dafür liegt in der Beharrungskraft sedimentierter Diskriminierungen. Das Prinzip des Sports ist Wettkampf fördernde Segregation.
Als erstes und ganz offensichtliches Beispiel ist hier der latente Nationalismus zu nennen. Einerseits ist dem Sport eine völkerverbindende Wirkung nicht gänzlich abzuspre-chen. Gemeinsame Aktivitäten und Sportfeste untermauern ohne Zweifel das friedliche Zusammenleben der Völker. Das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die nationale Organisation und Förderung des Sports einem agonalen Prinzip verpflichtet ist. Der Erfolg von nationalen Sportverbänden wird am Medaillenspiegel abgelesen. Es entsteht öffentlicher Druck, wenn, wie in der Vergangenheit geschehen, ein Verband wie der Deutsche Schwimmverband (DSV) bei den Olympischen Spielen in London ohne Medaille bleibt. In einer Art Selbstzerfleischungsaktion wurde nach den Spielen vom DSV eine katastrophale Bilanz gezogen und tiefste Zerknirschung demonstriert. Christa Thiel, Vize-Präsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), wurde mit den Worten zitiert: »Wir hatten mal eine europäische Vorherrschaft im Schwimmen, die haben wir verloren.«6 Im Sport überlebt offenkundig eine Konstruktion von Nationalität, die in den Bekundungen anderer öffentlicher Institutionen bereits längst der Vergangenheit angehört. Bildungsinstitutionen, politische Parteien und Organe, Wirtschaftsunternehmen setzen seit mehreren Jahrzehnten auf Europäisierung und Internationalisierung, inter- und transnationalen Interessensausgleich und Konsensbildung. Die »europäische Vorherrschaft« in einem wichtigen Bereich auch nur anzustreben, hätte fatale Folgen. Die Deutschlandschelte der griechischen Öffentlichkeit und der Versuch der deutschen Seite, sie mit dem Verweis auf europäische Entscheidungsstrukturen zu entkräften, zeigt, dass nationale Vorherrschaft und Machtausübung in der politischen Szenerie Europas verpönt ist. Hier bleibt der Sport weit hinter den politischen Entwicklungen zurück. Und natürlich bekräftigt die nationale Substruktur des Sports nationalistische, sogar nationalchauvinistische Tendenzen, die ohnehin in allen europäischen Gesellschaften implizit oder explizit vorhanden sind. Die Unterscheidung von Staatszugehörigkeiten – und nichts anderes heißt Diskriminierung zunächst – gehört zu den Prinzipien des olympischen Sports. Menschen, die mehreren Nationalitäten oder einer nationalen Minorität angehören oder gar staatenlos sind, haben Schwierigkeiten. Falls es um ein besonderes Talent geht, öffnen die Verbände Tür und Tor, um eine schnelle Einbürgerung und eine Startberechtigung für ihr Land zu erwirken. Exoten und abgehalfterte, gewesene Spitzensportler, Millionäre mit Hang zum sportlichen Exhibitionismus erwerben die Staatsangehörigkeit von Kleinstnationen, um einmal an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Im Reglement werden Eiertänze aufgeführt, um zu ermöglichen oder zu vermeiden, dass Sportler für zwei oder mehr Nationen startberechtigt sind. Vielfach passt die Lebenswirklichkeit dieser Sportler aber gar nicht zu den Schubladen, die Staatszugehörigkeiten öffnen.
Ein weiteres Beispiel bildet die Geschlechtersegregation im Sport. Die klassische Sportwelt ist in zwei Hemisphären geteilt, eine Welt für Frauen, eine andere für Männer. Tatsächlich sind die Leistungsprofile von Männern und Frauen in vielen Sportarten verschieden, aber natürlich nicht in allen, so dass bei einigen Sportarten die Aufteilung in Frauen- und Männer-Sportgruppen sachfremd ist und nur aus Tradition aufrecht erhalten wird. In einigen Sportarten haben sich zusätzlich zu den Frauen- und Männer-Wettkämpfen sogenannte Mixed-Veranstaltungsformen ergeben. Aber das ist eher selten.
Problematisch ist diese Aufteilung auch, weil sie die grundlegenden Einsichten der medizinischen und kulturwissenschaftlichen Genderforschung ignoriert, nach denen es bisweilen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, die bipolare Kategorisierung ›Mann/Frau‹ auf eine konkrete Person anzuwenden, ohne sie zu diskriminieren. Er erinnert sei an den Fall Caster Semenya, eine 800 m-Läuferin, die bei der Leichtathletikweltmeisterschaft in Berlin 2009 Gold gewann. Während des Wettkampfes kursierten Gerüchte, dass Caster Semenya intersexuell sei und daher gar nicht erst hätte starten dürfen. Der Leichtathletikverband ordnete einen Test an zur Überprüfung der Geschlechtszugehörigkeit. Insgesamt entwickelte sich daraus eine für den Verband höchst peinliche und für die junge Athletin unerträgliche Diskussion um Geschlecht und Gender. So ließ sich ein Funktionär, der IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss, mit den Worten zitieren, es sei klar, dass Semenya »eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent« (Neue Zürcher Zeitung, 10. September 2009) Aus der Frauen- und Geschlechterforschung ist indes seit mehr als drei Jahrzehnten klar, dass die Geschlechtszugehörigkeiten einerseits nicht ausschließlich bipolar sind und andererseits, dass die Geschlechtszugehörigkeit nicht allein durch biologische Parameter gegeben ist, sondern ein soziales Konstrukt darstellt. An diesem Beispiel lässt sich gut erklären, warum die Wettkampfbedingungen, die Einteilung in Männer- und Frauengruppen, problematisch ist und eine bleibende Tendenz zur Diskriminierung aufweist, aber gleichzeitig aufrecht erhalten werden muss.
Wer hat Angst vor Markus Rehm?
Kommen wir nun zu Markus Rehm zurück: Bei den Paralympics ist klar zu erkennen, dass es eine Bewegung hin zur Professionalisierung auch im Behindertensport gibt. Hier schreibt der Sport große Geschichten. Die Medienaufmerksamkeit und die Berichterstattung nehmen spürbar zu. Daher geht es auch in diesem Sportfeld um Sponsorenverträge und Werbeeinnahmen. Das ist aus der Sicht der Sportler zu begrüßen und ein Zeichen dafür, dass der Behindertensport und mit ihm der behinderte Sportler in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind: Inklusion.
Aber auch hier ist die Sache trügerisch: Gerade der Behindertensport zeigt, dass Segregation und Exklusion für den Sport konstitutiv ist. Ohnehin versteht es sich von selbst, dass von fairen und gleichen Ausgangsbedingungen nur eingeschränkt gesprochen werden kann. Bereits die ›natürlichen‹ Anlagen der Athleten sind sehr verschieden. Ferner unterscheiden sich die verfügbaren Materialien, die Trainingsmöglichkeiten, die Ausstattung von Trainingsgeländen, der Zugang zu medizinischer Versorgung in einzelnen Ländern und für einzelne Athleten und Verbände gravierend. Daher ist es sinnvoller, diese Seite des Wettkampfes als geregelte Ungleichheit zu bezeichnen.7 Einerseits kann man dadurch vermeiden, den sehr unklaren Begriff von Fairness oder gar Gerechtigkeit auf formelle Gleichheit – welcher Art auch immer – zu reduzieren. Andererseits beschreibt der Ausdruck geregelte Ungleichheit besser, was tatsächlich beim Sport passiert. Es gibt Regeln für die einzelnen Wettkämpfe, die über die Teilnahmemöglichkeiten des Athleten bestimmen. Diese Regeln haben ganz unterschiedliche Gründe. Und nicht immer sind sie intuitiv verständlich. Vielmehr kommt es an den Schnittlinien dieser Regeln zu Konflikten.
Die Organisation der Paralympics ist bemüht attraktive Wettkämpfe auszurichten und stellt deshalb verschiedene Behinderungstypen in Wettkampfklassen zusammen, die je nach Sportart variieren. Diese Klassifizierung lässt eine grobe Einteilung in amputierte Sportler, Sportler mit Zerebralparese (Störungen der Bewegungssteuerung im Gehirn), Sehbehinderte, Rollstuhlsportler, Kleinwüchsige und »Les Autres« (unterschiedliche Behinderungen, die in den vorhergehenden Gruppen nicht enthalten sind). Eine besondere Rolle spielen die sogenannten ›geistig Behinderten‹, die gelegentlich schon an solchen Wettkämpfen teilnehmen konnten, aber auch über eigene Organisationsformen verfügen (Special Olympics). Deutlicher als bei Sportwettkämpfen der Nicht-Behinderten tritt hier die ganze Bandbreite nicht standardisierter Körper zu Tage. Beim Behindertensport wird auch offensichtlich, dass es keine Gleichheit in den Ausgangsbedingungen geben kann. Der Versuch der Verbände und Organisationen geht nur dahin, Ungleichheiten zu regeln. Sie tun das durch Segregation und Exklusion. Exklusion ist insofern konstitutiv für den Wettkampfsport – dies gilt in besonderem Maß für den paralympischen Sport.
Der Behindertensport führt zu zwei verschiedenen Konfliktfeldern. Der Fall ›Markus Rehm‹ hat gezeigt, dass es zu umstrittenen Zulassungen zu Wettkämpfen kommen kann. Abseits von der Fragestellung, ob und inwieweit technische Mittel im Sport sinnvoll, wichtig oder – wie im Behindertensport – unerlässlich sind, zeigt sich daran ein grundlegendes Problem der Steigerungslogik. Es bleibt fraglich, nach welchen Kriterien Ungleichheit in der Leistungsfähigkeit geregelt werden kann oder soll. Den Sportlern wird eine enorme Anpassungsleistung abgefordert. Die Körpernormierung wird mit technischen Mitteln unterstützt, damit auch der behinderte Athlet Bestleistungen erbringen kann. Gelingt dies tatsächlich, werden Befürchtungen laut, die Leistung sei nur durch die technischen Mittel möglich, Manipulationen seien dadurch Tür und Tor geöffnet. Exklusion, d. h. das Ausschließen von Menschen mit bestimmten nicht nur körperlichen Merkmalen ist für den Sport konstitutiv, und zwar verschärft unter der Voraussetzung, dass Leistungssport in enormen Ausmaß wirtschaftlich verwertbar ist. Dies widerspricht aber eklatant der gemeinschaftsbildenden Idee des Sports, die allenthalben propagiert wird. Wie die Monstranz wird die integrierende, gemeinschaftsbildende, völkerverbindende Funktion des Sports vor der Prozession hergetragen, während an deren Ende geschachert wird, was das Zeug hält.
Zum Schluss möchte ich ein Resümee ziehen. Niemand wird glauben wollen, dass die widerstrebenden, sich widersprechenden konstitutiven Bedingungen den Supertanker »Sport« in kurzer Zeit zum Stoppen oder gar zum Sinken bringen könnten. Trotzdem gibt es Gefahren für den Sport. Öffentliche Unterstützung kann der Sport dauerhaft nur dann erwarten, wenn seine nationale Orientierung moderat bleibt; seine Segregationskriterien ideologisch gedeckelt werden; das Thema ›Geld‹ selbst nur sportlich behandelt wird; wenn Manipulationen aller möglichen Arten kontrollierbar und medial beherrschbar bleiben. Aber der nationalistische, exkludierende, wirtschaftsliberale Handlungsdruck auf den Sport wächst weiter. Ja, man kann auch sagen, dass gerade diese nationalen, exkludierenden, wirtschaftlichen Faktoren, den Sport immer weiter stabilisieren und immunisieren. Denn sie sorgen dafür, dass das Leistungsprinzip durch geregelte Ungleichheit durchgängig den Sport regieren kann. Wer hat also Angst vor Markus Rehm? Nach meiner Auffassung ist es der Sport selbst. Er ängstigt sich um seinen auratischen Augenblick, um das Scharnier, das den Sport mit dem Konsum koppelt. Im Falle ›Rehm‹: um die Segregation. Inklusion ist eine Gefahr für die Sportindustrie. Inklusion würde das Leistungsprinzip unterhöhlen. Inklusion bedroht die wichtigste Grundlage des Sports: die geregelte Ungleichheit. Leistung, Leistungsvergleich und Leistungsmessung wären im Sport nicht mehr ausschlaggebend. Dabei sein wäre alles, egal ob mit Prothese oder ohne! Das schließt aber nicht aus, dass sich der Sport in seiner sittlichen Substanz verändert. Schon jetzt scheint der schöne Schein einer reichhaltig mit Werten ausgestatteten Sportwelt mächtig verschattet zu werden. Und der Zuschauer schmeckt den Verlust an Authentizität, die von bloß kosmetischen Werten ausgehen. Es könnte sein, dass die ganze Sportbranche in Bewegung gerät, weil Authentizität nicht vermittelt werden kann und monetäre Interessen Sportarten ins Abseits stellen, die besonders von Authentizität profitieren.
- 1. Vgl.: Asmuth, Christoph: Doping als Symptom der Moderne
- 2. Vgl.: Asmuth, Christoph: Die gesellschaftliche Komplexität des Dopings
- 3. Preuß, Holger: Wirtschaftsfaktor Sport in Deutschland. Bedeutung des Spitzen- und Breitensports im Bereich Werbung, Sponsoring und Medienrechte.
- 4. Vgl.: Asmuth, Christoph: Glaubwürdigkeit und Authentizität – ein Problem des Dopings?
- 5. Vgl.: Asmuth, Christoph: »Die Werte des Sports und der Kampf gegen Doping.« In: Auf die Plätze. Sport und Gesellschaft. Herausgegeben von Katarina Matiasek, Klaus Vogel und Susanne Wernsing für das Deutsche Hygiene-Museum. Göttingen 2011, S. 109–115
- 6. http://www.spiegel.de/sport/sonst/olympia-2012-deutsche-schwimmer-analys...
- 7. Vgl. zur geregelten Ungleichheit: Asmuth, Christoph: »Praktische Aporien des Dopings«, in: In: Was ist Doping? (Hrsg.) Asmuth, Christoph (Brennpunkt Doping; 1) Bielefeld 2010, 93–116.