Elektronische Sehprothesen

Zukunftsvisionen und Gegenwartsprobleme

Im Jahr 2027 wird Blindheit heilbar sein. Die natürlichen Augen der Blinden werden durch augapfelförmige Digitalkameras ersetzt werden, die an den Sehnerv angeschlossen werden und dadurch Videobilder an den visuellen Kortex weiterleiten. Die Kamerabilder werden hochauflösend, farbig und gestochen scharf sein und Zusatzinformationen über die Umgebung in Textform enthalten. Durch die Digitalisierung und vollständige Vernetzung der Sehprothesen können die gesehenen Bilder zudem als Livestream direkt an Freunde und Bekannte verschickt werden.

Zumindest wird diese Zukunftsvision im Computerspiel Deus Ex: Human Revolution (2011) präsentiert. Das Werbevideo1 des fiktiven Prothesenherstellers Sarif Industries aus dem Computerspiel bewirbt neben futuristischen Hand- und Armprothesen auch die Augenprothese (Abb. 1). Das Video hat es zu einer gewissen Bekanntheit gebracht, als die britische Zeitung Sun die fiktive Firma für real hielt und sie in einem Bericht über Prothesenentwicklungen erwähnte.2 Die Journalisten der Sun haben nicht sorgfältig recherchiert, doch wie viel Fiktion und wie viel Fakt beinhaltet die Zukunftsvision von Deus Ex?

Bionische Augen

Die Vision des künstlichen Auges aus Deus Ex scheint heute weniger unrealistisch als seinerzeit der VISOR aus der Fernsehserie Star Trek: The Next Generation (1987–94), der ebenfalls blinden Menschen das Sehen ermöglicht.

Weltweit arbeiten heute ca. 20 Forschergruppen3 an elektronischen Sehprothesen – auch »bionische Augen« genannt – für Blinde und hochgradig Sehbehinderte. Die Ansätze bei der Entwicklung solcher Sehprothesen unterscheiden sich dabei vor allem darin, wo die technischen Komponenten implantiert werden. Dabei kann man vier ›Einsatzorte‹ des Implantats unterscheiden: 1) an der inneren Netzhautoberfläche (epiretinal), 2) unter der Netzhaut (subretinal), 3) um den Sehnerv herum und 4) am visuellen Kortex.

Alle Methoden haben eigene Vor- und Nachteile,4 die sich aus der jeweiligen organischen Beschaffenheit der Implantationsstellen ergeben. Bei allen implantierten Teilen muss aus Sicherheits- und Effektivitätsgründen die Biokompatibilität gewährleistet sein, d. h., das implantierte Material darf weder vom Körper abgestoßen noch eingekapselt werden. Auch die Befestigung des Implantats am Gewebe sowie die Stromversorgung sind Schwierigkeiten, die bei jeder der Methoden auf andere Weise gelöst werden müssen. Ebenso ist die Wärmeentwicklung der Elektronik ein Faktor, der beim Design der Implantate beachtet werden muss, da laut internationalem Standard keine Oberfläche eines Implantats mehr als 2 °C wärmer als die Körpertemperatur sein darf.5 Die Entwicklung solcher Augenprothesen ist folglich immer interdisziplinär, denn neben Medizinern sind auch Biotechniker, Informatiker und Ingenieure involviert.

Die erste elektronische Sehprothese, die es zur Marktreife geschafft hat, ist die Argus II-Netzhautprothese, die 2011 für den europäischen Markt und 2013 in den USA zugelassen wurde (Abb. 2). Entwickelt wurde das Argus II vom Unternehmen Second Sight Medical Products aus Kalifornien. Das Argus II-System hat äußere und innere Komponenten. Die äußeren sind eine Brille, auf der eine Mini-Videokamera montiert ist sowie die Videoverarbeitungseinheit – ein Computer, in dem die Kamerasignale verarbeitet werden. Der Computer sendet die verarbeiteten Daten über das Kabel an die Brille zurück, wo sie von einem Sender drahtlos an die innere Komponente der Prothese – das eigentliche Implantat – übermittelt werden. Der Empfänger befindet sich unter der Haut an der äußeren Seite des Auges und gibt die Signale an eine Elektrodenmatrix weiter. Diese befindet sich (epiretinal) auf der Netzhaut und stimuliert mit elektrischen Impulsen die Nervenzellen. Das Argus II-System wurde für Augenerkrankungen entwickelt, bei denen die Photorezeptoren der Retina nicht funktionieren, aber die anderen Schichten der Retina noch intakt sind, wie etwa bei der Augenkrankheit Retinitis pigmentosa.

Elektronisches Sehen

Das Argus II ist die Prothese, die dem bionischen Auge aus Deus Ex heute am nächsten kommt. Das, was die Patienten mit dem Netzhautimplantat wahrnehmen, ist jedoch weit entfernt von den hochauflösenden Bildern mit brillanten Farben aus dem Deus Ex-Video. Die Bilder, die das Implantat liefert, erinnern eher an die einfache Pixelgrafik aus dem Computerspiel Pong aus den 1970er Jahren, bei dem weiße Balken vor einem schwarzen Hintergrund bewegt werden. Die verwendete Kamera ist dabei nicht das Problem – sie könnte auch hochauflösendere Bilder liefern – das Nadelöhr ist (wie so oft bei Prothesen) die Schnittstelle zwischen Elektronik und Körper. Das Elektrodenarray besteht aus nur zehn mal sechs, also 60 Elektroden. Um zu veranschaulichen, was die Nutzer mit dem Argus II sehen, könnte man also ein beliebiges Digitalfoto mit einem Bildbearbeitungsprogramm auf 10 x 6 Pixel skalieren und die Farbtiefe von 24 Bit auf 1 Bit (Schwarz-Weiß) reduzieren. Wohlgemerkt: um es zu veranschaulichen.

Was die Person mit dem Argus II tatsächlich sieht, lässt sich so aber nur schlecht simulieren, denn sie nimmt nicht wohldefinierte runde oder eckige Pixel wahr, sondern Phosphene, also unregelmäßige Lichtflecken, die in Größe, Helligkeit und Farbigkeit variieren können.6 Da von einer Elektrode des Implantats unterschiedlich viele Nervenzellen stimuliert werden, gibt es keine 1:1 Entsprechung zwischen Pixeln und Phosphenen.7 Die Wissenschaftler und Mediziner können zwar die Bilder des Videoprozessors auf einem Monitor anzeigen, sie wissen aber dennoch nicht, was die Patienten wahrnehmen. Das Sehen ist subjektiv und privat. Das macht den Anpassungsprozess der Prothese so zeitaufwendig. Während die Implantation des Argus II nur wenige Stunden dauert, beginnt die eigentliche Arbeit mit und an der Prothese nach der OP in der Rehabilitationsphase. Dort müssen die Patienten über mehrere Monate lernen, die wenigen Informationen, die die 60 Elektroden liefern, sinnvoll zu interpretieren, und die Software des Videoprozessors muss für jeden Patienten individuell eingestellt werden. Das elektronische Sehen muss mühsam gelernt werden, genau wie das elektronische Hören mit einem Cochlea-Implantat, das wenig mit dem natürlichen Hören gemein hat.

Mit ausreichend Übung kann durch das Argus II dennoch die Mobilität verbessert werden, indem z. B. Türen, Fenster, Bordsteinkanten und Treppenstufen erkannt werden können. Die Möglichkeit, mit der Software des Videoprozessors den Kontrast anzupassen, Kantenerkennung anzuschalten und die Farben zu invertieren, ist dabei hilfreich. Ein Video auf der Webseite von Second Sight zeigt einen Patienten, der Worte vorliest.8 Der Titel des Videos ist allerdings etwas irreführend, da der Mann nicht eine Zeitschrift liest, sondern mehrere Zentimeter große Buchstaben auf dem Umschlag der Zeitschrift. Für jemanden, der ohne Prothese blind ist, muss dies dennoch ein großes Erfolgserlebnis sein. Aber auch nach erfolgreicher OP und Reha sind die Patienten weiterhin auf Blindenstock oder Führhund angewiesen, um sich sicher im öffentlichen Raum zu bewegen. Die Prothese ersetzt also nicht andere Hilfsmittel, sondern ergänzt sie nur. Wichtiger als der praktische, messbare Nutzen scheint für einige Betroffene zu sein, dass sie überhaupt wieder visuelle Eindrücke bekommen und z. B. den Mond oder ein Feuerwerk am Himmel9 sehen können. Durch den hohen Kontrast sind solche Szenen prädestiniert für das elektronische Sehen mit dem bionischen Auge.

Die nächste Genration des Argus mit 256 Elektroden10 ist schon in der Entwicklung und auch die Konkurrenz arbeitet an höher auflösenden Arrays. Die Retina Implant AG in Deutschland arbeitet zusammen mit der Tübinger Augenklinik an dem Alpha IMS-Implantat mit einem Array aus 1500 ›Pixeln‹, das 2013 das CE Zertifikat erhalten hat. Es ist ein subretinales Implantat und funktioniert ohne Kamera. Mikrophotodioden wandeln das einfallende Licht direkt in elektrischen Strom um. Die Retina Implant AG verspricht sich vom subretinalen Ansatz »die beste räumliche Auflösung und Sehschärfe sowie Stabilität des Seheindruck«.11 Der Vorteil von subretinalen Implantaten ist, dass sie, abgesehen von der Stromversorgung, ohne äußere Komponenten auskommen. Der Nachteil ist, dass sie dadurch, im Gegensatz zu epiretinalen, nicht mehr durch ›Updates‹ verbessert werden können.

Wann beginnt die Zukunft?

Trotz aktueller technischer Schwierigkeiten bei der Entwicklung elektronischer Sehprothesen ist der Tenor der Forscher und Mediziner insgesamt optimistisch: Das Argus II ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sobald die Probleme und Limitationen der heute verfügbaren Technologie überwunden sind, werden die Implantate sogar noch bessere Ergebnisse für die Patienten liefern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis höher auflösende Modelle auf den Markt kommen werden. Und so werden zukünftige Generationen auf die ersten Sehprothesen schauen, wie wir heute auf alte Schwarz-Weiß-Fernseher schauen und über die rasante Entwicklung staunen. So wie bei Fernsehern wird auch bei Sehprothesen der Preis irgendwann sinken. Die Argus II-Prothese, die Operation, die notwendigen Rehamaßnahmen und die Anpassung kosten heute insgesamt knapp 200 000 $.12

Bei aller Fortschrittseuphorie verliert man leicht aus dem Blick, dass schon heute die Mittel verfügbar sind, um den allermeisten Blinden zu helfen. Laut WHO könnten 80 Prozent der weltweiten Fälle von Blindheit und Sehbehinderung vermieden oder geheilt werden.13 Die mit Abstand häufigste Ursache (47,8 Prozent14) für Blindheit und Sehbehinderung ist die Trübung der Linse – der Graue Star. Diese Krankheit operativ zu behandeln, ist in Deutschland ein Routineeingriff, der ambulant geschieht und von der Krankenkasse übernommen wird. Auch der Befall mit Parasiten sowie Vitamin A Mangel in der Kindheit sind vermeidbare Ursachen für Blindheit, die diejenigen treffen, die nicht das Glück haben, ins deutsche Gesundheitssystem geboren zu werden. Die Aufgabe, den betroffenen Menschen zu helfen, ist keine technische Aufgabe, kein Motiv der Science Fiction-Literatur. Nicht die technische Entwicklung von prothetischen Hilfsmitteln ist die Lösung für das Problem der weltweiten Blindheit, sondern die gerechte Verteilung von Lebensmitteln und die flächendeckende medizinische Versorgung.

Dies zu gewährleisten scheint noch utopischer als die Möglichkeit, Digitalkameras in Augen zu implantieren.