Meine Oma, der Cyborg

In Berlin gründet sich ein Verein, um für Cyborg-Rechte zu kämpfen

Erste Assoziationen zum Begriff des Cyborgs reichen von RoboCop über Terminator1 bis hin zu »diesem Manifest von Donna Haraway«. Versteht man unter Cyborg aber erst einmal menschliche oder tierische Körper, die dauerhaft durch künstliche Teile ergänzt werden, könnten wir auch einfach an unsere (Groß-)Eltern denken: Mit einem künstlichen Hüft- und Kniegelenk, einem Herzschrittmacher und einem Hörgerät ist meine Oma eigentlich ganz gut dabei, wie ich finde.

Auch die Mitglieder des neu gegründeten Cyborg e. V. in Berlin haben eine lockere Definition davon, was ein Cyborg ist, und finden sogar, dass »wir doch alle irgendwie schon welche sind, ohne es gemerkt zu haben«. Mehrmals im Monat veranstalten sie offene Treffen für Interessierte in der C-Base, Berlins Hackerspace im authentischen Raumschiff-Enterprise-Ambiente.

Einer der Vereinsvorsitzenden ist der Journalist und Autor Enno Park. Seit der Gründung zeigen die Medien großes Interesse am ersten deutschen Cyborg-Verein und Enno, der erst seit einigen Monaten mit Hilfe eines Cochlea-Implantates wieder hören lernt und sich daher selbst als Cyborg bezeichnet, kann sich vor Presseanfragen kaum retten (s. Abb. 1). Solch ein öffentliches Auftreten wäre ohne das Implantat, mit dem er zum »ganz neuen Menschen« wird, nie möglich gewesen. Enno hat aber noch größere Pläne: Mit einem Freund arbeitet er daran, sein Implantat zu hacken, damit er für die Feineinstellungen – wie zum Beispiel die Justierung des Basses – nicht jedes Mal die Klinik aufsuchen muss, sondern den neuen Teil seines Körpers selbst kontrollieren kann. Sein Traum ist es, bald auch Ultraschall hören zu können: »Das wird aber schwierig, denn an die einzelnen Bauteile kommt man kaum heran.« Seine nächsten und auch realistischeren Pläne sind daher ein RFID-Chip (s. Abb. 2) in der Hand, der mit dem Smartphone, dem Lichtschalter oder der Heizung kommuniziert, und ein programmierbarer kleiner Vibrator im Oberarm als Wecker-Ersatz, denn Enno schaltet das Hörimplantat nachts aus und von Lichtweckern wird er nicht wach.

Debatten, die geführt werden müssen

Auf den ersten Blick mag der Verein leicht als ein Haufen skrupelloser Freaks abgetan werden, doch das täte Unrecht. Den Mitgliedern geht es um mehr, als sich Magneten oder Chips unter die Haut zu schieben. Es soll vor allem ein Raum für Debatten geschaffen werden, um die wir demnächst nur schwer herumkommen werden. Dafür möchte der Verein ein Netzwerk etablieren, um Informationen auszutauschen und verschiedene Kompetenzen und Perspektiven zusammenzubringen: Was machen Geräte wie die google glass mit uns? Was ist Gebrauch und was ist Missbrauch? Generell, so Enno Park, vertrete der Verein eine »kritische, aber bejahende Grundhaltung« gegenüber den derzeitigen Entwicklungen. Daher auch der Untertitel des Vereins: Gesellschaft zur Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik.

Für Menschen mit medizinischen Implantaten und Prothesen dürften die Vorteile jener Verschmelzung klar sein, doch auch ein Magnet im Finger oder die glass auf der Nase können als »Bewusstseinserweiterung« angesehen werden – die Grenzen sind fließend. Schließlich kann eine glass, die im Gegensatz zu anderen Geräten und Robotern erschwinglich ist, das Leben von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen erleichtern: Gelähmte können problemlos im Internet surfen, kommunizieren und Fotos schießen, Menschen mit geistigen und/oder autistischen Beeinträchtigungen kann die glass klare Instruktionen, Erklärungen und Informationen geben oder bei der Orientierung helfen.

Zwischen Freiheit und Zwang

Ihre Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung scheint hingegen vor allem aus einer antikapitalistischen Haltung der Berliner Cyborgs heraus zu kommen: Im kapitalistischen System bestehe eine große Gefahr, dass all die Daten, die wir über uns produzieren, durch Geheimdienste oder Privatkonzerne auf eine Art und Weise genutzt werden, wie wir es nicht wollen. Auch sprechen sie sich klar gegen eine Verwendung dieser Technologien zu militärischen Zwecken sowie eine sogenannte Zwangs-Cyborgisierung von Menschen und Tieren aus.

Das erinnert an das wiederkehrende Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Realität: Emanzipation und Freiheit einerseits und die Verwendung von Computertechnologien in einer Gesellschaft mit den bekannten Zwängen und Reizen der kapitalistischen Logik andererseits. Aber sind wir diesem »Gruppenzwang« nicht schon mit Internet, Facebook, (Smart-)Phone & Co ausgesetzt? Geht in einer sogenannten Leistungsgesellschaft mit Schönheitsidealen und Massenmedien irgendetwas ohne diese latente Zwangsoptimierung? Oder erfährt dieser Druck nun tatsächlich eine neue Qualität, geht sprichwörtlich unter die Haut?

Auch das Hinterfragen und Aufbrechen von gesellschaftlichen Körper- und Geschlechternormen spielt eine wichtige Rolle für den Verein, der sich auf jenes Manifest der feministischen Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway ausdrücklich bezieht. Darin heißt es zum Beispiel:

»Cyborgs sind Geschöpfe in einer Post-Gender-Welt. … Gender, Sexualität, Verkörperung, Geschicklichkeit, all das wird in dieser Geschichte rekonstituiert. Warum sollten unsere Körper an unserer Haut enden oder bestenfalls andere von Haut umschlossene Entitäten umfassen? … Cyborgs, die den Status von Mann oder Frau, Mensch, Artefakt, Rassenzugehörigkeit, individueller Identität oder Körper sehr fragwürdig erscheinen lassen.« 2

Überwindung von race, class, gender, das Auflösen von Normen also durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Doch gegenüber dieser Verschmelzung aus freien Stücken herrscht im Mainstream bisher große Skepsis. Daher soll durch den Verein auch politische Lobbyarbeit für Cyborg-Rechte gemacht und eine Öffentlichkeit geschaffen werden.

Der erste staatlich anerkannte Cyborg

Ein gutes Beispiel und fast schon eine Ikone der globalen Cyborg-Bewegung ist der farbenblinde Neil Harbisson. So wie andere morgens ihre Brille aufsetzen, setzt er seinen »eyeborg« auf – ein Gerät, das ihm Farben in verschiedene Töne übersetzt. Als »der Mann, der Farben hören kann,« besteht weltweit großes mediales Interesse an ihm und all die Interviews und Auftritte wie zum Beispiel bei den TED-Talks (s. Abb. 3) sind gleichzeitig eine gute Selbstvermarktung für den Künstler und Komponisten. Außerdem gilt er als der erste Mensch, der von einer Regierung offiziell als Cyborg anerkannt wird, da er – wohlgemerkt nach langem Kampf – seinen eyeborg für das Passfoto aufbehalten durfte. Die Tatsache, dass Brillen ohne Frage auf Passbildern erlaubt sind, zeige, dass dies doch lediglich kulturelle Fragen und Verhandlungssache seien, meint Enno Park dazu.

In diesem Zusammenhang will der Verein auch eine Umdeutung des Begriffs Cyborg erreichen: erst einmal weg vom Bild gefühlsloser Kampfmaschinen aus Zukunftsfilmen, die fern von allem, was real und »natürlich« scheint, inszeniert werden, und vielleicht hin zu »uns«, die wir hochtechnisierte Implantate, Prothesen und wearables3 tragen – oder auch nur ein sehr enges Verhältnis zu unserem Smartphone haben.

Cyborg-freundliche Ärzt_innen gesucht!

Der Berliner Cyborg e. V. ist deutschlandweit zwar der erste seiner Art, im Gegensatz zu den USA aber eher ein Nachzügler. In Europa ist die 2010 von Neil Harbisson gegründete Cyborg Foundation wohl das größte und ehrgeizigste Projekt, öffentliches Interesse für Cyborgs und deren Rechte voranzutreiben und in dieser Richtung zu forschen. Dass die Szene in den USA am größten ist, mag auch am lockeren Berufsethos der Ärzt_innen dort liegen. Wer einen kleinen Chip unter der Haut tragen möchte, kann das professionell und steril machen lassen. In Deutschland hingegen muss dafür auf die Piercing- und Bodymodification-Szene zurückgegriffen werden – oder im Zweifelsfall auf DIY-Anleitungen im Internet. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Ärzt_innen bei fragwürdigen bis risikoreichen schönheitschirurgischen Maßnahmen hingegen keine Skrupel haben, wirkt das absurd und zeigt, dass es den ärztlichen Berufsethos eventuell neu zu verhandeln gilt. »Beim Chip-unter-die-Haut-Schieben kommen hierzulande plötzlich religiöse Reflexe im Sinne von ›Die Schöpfung ist heilig‹ auf«, bemerkt Enno etwas zynisch. Interessierte mit chirurgischer Ausbildung sind im Verein daher besonders willkommen.

Neben medizinischen Kompetenzen sind auch Hacker_innen gern gesehen. Wie Enno haben auch andere Träger_innen von Prothesen oder Implantaten das Bedürfnis, selbst die Kontrolle über die Programmierung ihrer neuen Körperteile zu haben. Der Cyborg e. V. ist daher auch nahe an der Biohacker-Szene, die in Webforen wie biohack.me Selbstmodifizierungs-Tipps austauscht. Dort tummeln sich Leute wie Rich Lee, der sich Magneten in die Ohrknorpel implantierte und die als drahtlose Kopfhörer fungieren, wenn er zusätzlich eine Spule um den Hals trägt. Davon inspiriert hat der Berliner Blogger und Cyborg Stefan Greiner kürzlich an seinem Magneten im Finger so herumgebastelt, dass auch dieser nun als Kopfhörer funktioniert. Die Liste und Möglichkeiten solcher »Spielereien« ist lang und reicht von jenem Magneten im Finger über komplett unter der Haut gelegenen Chips, die biomedizinische Daten messen und via Bluetooth auf mobile Endgeräte senden, bis hin zu magnetischen Piercings, an denen Uhren oder MP3-Player getragen werden können. Eine Do-it-yourself-Szene jenseits etablierter Forschung und selten mit kommerziellen Absichten.

Kraft der Gedanken Schokolade essen

Beim Nachdenken über die Schnittstelle Mensch-Maschine ist für den Cyborg e. V. auch die Forschung über Brain-Computer-Interfaces (BCI) interessant. Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass Hirnströme gemessen, analysiert und in Steuersignale umgewandelt werden. Ein gängiges Beispiel dafür ist das Bedienen einer Computertastatur mit bloßer Gedankenkraft, sozusagen, eine direkte Hirn-Computer-Schnittstelle eben. Die Cyborgs denken schon wieder weiter: Die Hirnströme der einen Person könnten ausgewertet und auf Implantate einer anderen Person übertragen werden: »Jemand anderes spürt automatisch, wenn ich mich etwa erschrecke«, meint einer der Mitglieder euphorisch.

Klingt ein wenig nach Zukunftsmusik, ein interessantes und erfolgreiches Beispiel der Brain-Computer-Interface-Technologie ist aber zum Beispiel die 53-jährige Jan Scheuermann. Sie ist vom Kopf abwärts gelähmt und konnte sich kürzlich mittels einer BCI-gesteuerten externen Armprothese einen kleinen Traum verwirklichen: nach 20 Jahren wieder selbstständig von einer Tafel Schokolade abbeißen. Das Medical Center der University of Pittsburgh hat ihren Lernprozess in einer kleinen Dokumentation festgehalten, Abb. 4 ist ein Ausschnitt daraus. Ein anderes Projekt ist die Walk Again-Kampagne: Mit einem BCI-gesteuerten Exoskelett soll ein gelähmter junger Brasilianer den Anstoß zur Fußball WM 2014 geben.

Zurück nach Berlin: Nachdem sich die rund 25 Mitglieder des Cyborg e. V. die letzten Monate mit den Formalia der Vereinsgründung herumgeschlagen haben, wollen sie sich nun wieder auf Inhalte konzentrieren: Zu den zweiwöchentlichen Treffen sollen immer mal wieder Vortragende eingeladen werden, es sind Diskussionsabende in anderen deutschen Städten geplant, Vorträge bei Konferenzen wie zum Beispiel der re:publica 14 und einmal im Monat gibt es einen globalen virtuellen hang-out, bei dem Berühmtheiten wie der britische Kybernetik-Professor Kevin Warwick hinzugeschaltet werden.

  • 1. Wobei es sich hier genau genommen um einen Androiden handelt.
  • 2. Aus einer gekürzten Version: Haraway, Donna: Ein Manifest für Cyborgs, http://www.medientheorie.com/doc/haraway_manifesto.pdf
  • 3. Am Körper trag-bare/wear-able Geräte, die mit verschiedenen Sensoren unsere Bewegungen und messbaren Eckdaten unseres Körpers erfassen, wie beispielsweise das Fuelband von Nike oder die Smartwatch Mio Alpha.