Homo faber in Höchstform: Prothesen Marke Eigenbau

Wenn sich Menschen Körper basteln

Was passiert, wenn Menschen versuchen, ihre verlorenen Gliedmaßen selbst zu ersetzen, sich selbst oder den Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung neue Gliedmaßen zu basteln? Dieser Prozess des Ent- und Verwerfens, des Anpassens von Dingen an den eigenen Körper, des Arbeitens mit vorhandenem begrenztem Material und Werkzeug, scheint zunächst denkbar weit entfernt von den hochtechnologischen Artefakten der modernen Prothetik. Gerade deshalb, das ist meine Annahme, kristallisieren sich in diesen Prozessen spannende Fragestellungen. Was sind die Motivationen der Prothesenträger_innen, sich ein Körper-Ersatzteil selbst anzufertigen oder zu modifizieren? Ob aus emanzipatorischen Vorstellungen, Bastlerfreude, finanziellem Zwang und Überlebenswille – an Prothesen Marke Eigenbau spitzen sich Fragen nach der Autonomie des Subjekts, unterschiedlichen Körperbildern, ökonomischen und (gesundheits-)politischen Aspekten auf interessante Weise zu – möglich durch das Netzwerk, in dem Mensch und Ding zugleich »Teilnehmer der Forschung, Voraussetzung und Ergebnis«1 sind. Ob es sich lohnt, Szenen des eingreifenden Formens und Entstehens in medialen Quellen zu suchen und zu analysieren? Statt einer umfassenden Analyse eines Falls, sollen in einem kaleidoskopischen Überblick viele mögliche Aspekte zusammengetragen werden. Vier Fälle werden nun exemplarisch angerissen und auf ihre möglichen weiterführenden Fragestellung befragt.

Ein Bein nach Baukasten-Prinzip

Im ersten Fall ist in einem knapp sechsminütigen Video Christina Stephens zu sehen, wie sie sich aus Lego-Bausteinen eine Unterschenkel-Prothese baut.2 Die Modularität der Spielsteine erlaubt ein fortwährendes Schaffen nach dem trial and error Prinzip. Statt vorausschauender Planung führt ein spielerisches Ausbrobieren zum Erfolg. Am Ende des Clips stellt Stephens die Baustein-Prothese ihrer ›eigentlichen‹, professionell gefertigten Prothese gegenüber (Siehe Abb. 1). Auch wenn in Sachen Praktibilität und Funktionalität die selbsterbaute Prothese keine Konkurrenz darstellt, provoziert die Szene auf ästhetische Weise eine Dichotomie zwischen Bastelei und Ingenieurskunst. Das erinnert an den Kulturtheoretiker Claude Lévi-Strauss, der den Bastler und den Ingenieur als die personifizierten Vertreter »beider Arten wissenschaftlicher Erkenntnis«,3 d. h. dem ›mythischen‹ und dem ›westlich-rationalen Denken‹ beschrieb. Christina Stephens’ Inszenierung übersetzt letzlich diese unterschiedlichen Weisen des In-der-Welt Seins und des Mit-der-Welt-Umgehen-Könnens in eine leiblich erfahrbare Aktion und gibt damit nicht nur Anlass, über das Verhältnis der zwei Erkenntnisweisen, sondern auch über den Zusammenhang von Denken und performativen Akten nachzudenken.

Ein Bein als Symbol von Hilfe und Gewalt

Ein in seiner Radikalität bestechendes Artefakt ist in einer Folge der WDR-Sendung Quarks&Co zu sehen. Moderator Rangar Yogeshwar hält neben verschiedensten Unterschenkel-Prothesen eine Prothese aus Kambodscha in die Kamera (Siehe Abb. 2): Es ist die Prothese eines Minenopfers, handgefertigt aus einer Granathülse.4 Die im wahrsten Sinne ungeheure ästhetische Sprengkraft und semantische Aufgeladenheit dieses Artefakts liegt dabei in dem Zusammenfall einer Symbolik von Gewalt – das Objekt würde auch als mahnendes Anti-Kriegs-Kunstwerk gut funktionieren – und lebensweltlicher Pragmatik. Ausschlaggebende Kriterien bei der Herstellung, so sei hier gemutmaßt, lagen hier nicht im Geschmack des/der Nutzenden oder in einer intendierten Symbolhaftigkeit, sondern im Vorhandensein und den physikalischen Eigenschaften des Materials. Auch hier wäre, wie bei der Spielstein-Prothese, eine Kontrastierung des Objekts mit einem industriegefertigten Bein interessant, beispielsweise mit Prothesen, die das DRK als Hilfsgut nach Kambodscha exportiert. Es wäre reizvoll, die Aufmerksamkeit im Sinne des material turn auf den Fluss der beim Bau beteiligten Ressourcen zu legen. So wäre es zumindest theoretisch möglich, dass sowohl Mine als auch Prothese aus gleichem Material oder im gleichen Staat gefertigt wurden. Auch wenn das in diesem Fall reine Spekulation ist, gibt es doch Anlass über das Verhältnis von Hilfe und Gewalt nachzudenken, denn wie Brecht in seinem Badener Lehrstück vom Einverständnis schreibt: »Hilfe und Gewalt geben ein Ganzes. Und das Ganze muss verändert werden.«5

Der menschliche Zugriff auf den tierischen Körper

Ein fast unerschöpfliches Feld an improvisierten, selbstgebastelten Prothesen findet sich in der Tiermedizin, bzw. der Tierhaltung. Im Internet findet man in mannigfaltigen Ausführungen Schildkröten mit angeklebten Rädern (Siehe Abb. 3),6 Elefanten mit geschnitzten Ersatz-Beinen, Orthesen für Katzen und dergleichen. Hier manifestiert sich der menschliche Zugriff auf den tierischen Körper, offenbart zugleich Vermenschlichung und Objektivierung des Tieres. Vermenschlichung, da anthropozentrische Wünsche und Idealvorstellungen auf Tiere projiziert werden. Zum Objekt wird der tierische Körper, indem ihm mit Plastikrädern und Klebstoff auf den Pelz gerückt wird mit einem Gestus, der an das Reparieren eines Gegenstands erinnert. Dabei liegt die ganze Planungs-, Entscheidungs- und Handlungsmacht beim menschlichen Akteur und nicht beim tierischen Subjekt, dessen erlebter Mangel eine menschliche Mutmaßung bleiben muss. Der Wille, den Körper (wieder) zu vervollständigen, ist letztlich ein humaner Wunsch. Diese Basteleien können so als Kristallisationspunkte eines ebenso paradoxen wie asymmetrischen Mensch-Tier-Verhältnisses herangezogen werden. Welche Tiere bekommen selbstgebaute, welche veterinärmedizinische und welche keine Prothesen? Ganz nach Orwell ließe sich diese Frage beantworten mit: »Alle Tiere sind gleich. Nur manche sind gleicher«.7 Es ist der Wert der Tiere für die Besitzer_innen, ob wirtschaftlicher oder emotionaler Art, der über prothetische Lösungen entscheidet. Je nach Zielgruppe und Absatzmarkt stehen professionelle Produkte zur Verfügung. Die Frage nach der Wertigkeit von Leben und Überleben tritt durch diese Perspektive des entscheidenden Anderen – letzlich eine Fremdbestimmung – in der Tierprothetik besonders eindrucksvoll zu Tage.

Vom Bauer zum Prothesenbauer

Um ökonomische Aspekte geht es auch im Fall des chinesischen Bauers Sun Jifa, der bei einem Unfall beide Arme verlor. Was zunächst nicht nur eine körperliche und seelische, sondern auch eine finanzielle Katastrophe war, wird in dem knapp dreiminütigen Videobericht als Erfolgsgeschichte inszeniert.8 Nachdem funktionale Prothesen unerschwinglich und billigere Modelle für die alltägliche Arbeit nutzlos waren, konstruierte Sun Jifa als medizinischer und technischer Laie Prothesen-Arme, die sich durch Kraftübertragung der noch vorhandenen Muskeln auf die Stahl- und Holzteile für die tägliche Arbeit auf dem Feld eigneten. Dass Sun Jifa sich damit seine finanzielle Autonomie und damit gesellschaftlichen Respekt, mediale Präsenz und Selbstbewusstsein erarbeitete ist bemerkenswert, weit spannender ist jedoch der Aspekt des Wissens, der die reflexive Aufmerksamkeit auf sich zieht: Welches Wissen ist, welche Wissensarten sind zur Konstruktion von Prothesen notwendig? Wie wichtig ist das Wissen vom eigenen Körper, von eigenen Bedürfnissen und der Lebenswelt? Wer ist im Prozess der Prothesenentwicklung Expert_in? Ist der/die Betroffene nicht nur Endkonsument_in, sondern in die Entwicklung involviert, wird die konkrete Lebenswelt zum Kriterium der Konstruktion. Die durchschlagende Überzeugungskraft der Geschichte von Sun Jifa stellt eine vom/von der Endverbraucher_in abgekoppelte Technikentwicklung massiv in Frage.

»Form is the end, death. Form giving is life.« – Paul Klee

Am Schluss des Streifzugs durch die Medien wird deutlich: Alle erwähnten Einzelfälle und Beispiele wären es wert, sie einer umfassenderen Betrachtung zu unterziehen, sie systematischer und gründlicher einzuordnen, um ihnen wirklich gerecht zu werden. Die sprunghafte und eklektizistische Vorgehensweise dieses Beitrags ist der Intention geschuldet, die provisorische Prothesenbastelei als Seismograph für besonders reizvolle Fragestellungen zu bestätigen. Tatsächlich schlossen sich in jedem der vier vorgestellten Videoclips unmittelbar erkenntnistheoretische, politische, werttheoretische und geistesphilosophische Probleme an und wurden durch ihre Verhaftung im lebensweltlichen Kontext überraschend facettenreich verknüpft und erweitert. Diese Spielerei ließe sich beliebig fortführen. Im Spiegel der Berichte über Prothesen Marke Eigenbau werden Körperpraktiken und Dingtechniken reflektiert und es gilt nun, diese Reflexionen in gesellschaftlich relevanter Form zurückzuspiegeln.