Die mediale Inszenierung von Oscar Pistorius als futuristischen Superhelden

Einleitung

Vor dem tragischen Ereignis im Februar 20131 war Oscar Pistoriusein ein weltweit gefeierter Sportstar. Der beidseitig beinamputierte Sprinter lief auf j-förmigen Karbonfederprothesen Rekordzeiten. Er gewann mehrere Goldmedaillen und qualifizierte sich im Jahr 2012 als erster Amputierter für die Olympischen Spiele in London. Vor Pistorius hatte noch nie ein Athlet sowohl an den Paralympischen als auch den Olympischen Spielen teilgenommen. Der Südafrikaner war das Aushängeschild für den Behindertensport, der Liebling der Öffentlichkeit, heißbegehrtes Fotomodell und erfolgreicher Werbeträger. Regelmäßig berichteten die Zeitungen über ihn, und auch in diversen Blogs und Internetforen sorgte er für Gesprächsstoff.

Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, wie Oscar Pistorius auf dem Höhepunkt seiner Sportkarriere – also zwischen 2008 und 2012 – in den Medien inszeniert wurde, insbesondere in Hinblick auf seine Behinderung. Gegenstand der Untersuchung sind Artikel aus (Online-)Zeitungen und Zeitschriften ebenso wie Blogeinträge, Leserkommentare, Fernsehreportagen und Werbefilme sowie -bilder.2Nach meiner These nehmen die Medien einen einseitigen Blickwinkel ein, wenn sie über ihn berichten, mit ihm werben oder über ihn sprechen, und vor allem der Umgang mit seiner Behinderung fällt einer gewissen Beliebigkeit anheim.

Die Allmacht des Oscar Pistorius

Mensch der Zukunft

In den Medien trägt Oscar Pistorius den Spitznamen The Blade Runner. Zum einen meint ›Blade‹ seine Sprintprothesen, die wie ›Klingen‹ oder ›Laufschaufeln‹ aussehen. ›Blade Runner‹ bedeutet folglich ›Klingen- oder Laufschaufelsprinter‹. Zum anderen spielt diese Bezeichnung auf den legendären Science-Fiction-Film Blade Runner aus den 80er Jahren mit Harrison Ford in der Hauptrolle an. Dem Regisseur Ridley Scott diente der im Jahr 1968 erschienene Roman Do Androids Dream of Electric Sheeps?3 von Philip K. Dick als Vorlage. Der Film spielt in der Zukunft, in der es den Menschen gelungen ist, künstliche Menschen zu schaffen, sogenannte Replikanten, die von echten Menschen nicht mehr zu unterscheiden sind. Der Held des Films ist ein ›Blade Runner‹,4 ein Polizeibeamter, der die mittlerweile zur Bedrohung gewordenen Replikanten jagt. Am Ende des Filmes gibt es ein Anzeichen, dass der Held – ohne es zu wissen – selbst ein Replikant ist, so dass sich der Zuschauer schließlich fragt, was die Menschen überhaupt von den ihnen perfekt nachgebildeten Androiden unterscheidet. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine scheint im Film zunehmend zu verwischen. Auch im Fall von Pistorius, der beim Sprinten Federprothesen trägt, die so gar nicht an Beine aus Fleisch und Blut erinnern, scheint die Grenze zwischen Mensch und Technik – so wohl die Anspielung ›Blade Runner‹ – allmählich zu verschmelzen.

Auf einer Fotomontage, die in einem Blogeintrag zu finden ist, wird Pistorius als der neue Messias dargestellt:5Er schwebt im blauen, Wolken durchzogenen und über ihm hell erleuchteten Himmel und blickt erhaben zu uns herab. Er trägt nichts als weiße Shorts; sein entblößter, glatter Oberkörper wirkt rein und makellos. Dann erblicken wir seine Sprintprothesen, die einen Bruch in der Bildwahrnehmung erzeugen. Dem ›natürlichen‹ Körper werden die künstlichen Beine entgegengesetzt. Pistorius erscheint wie ein hybrides Mischwesen, das aus organischen und maschinellen Komponenten besteht. Als solcher ist er uns, den wir ihn von unten anblicken und über dem sich der Himmel aufzutun scheint, überlegen. Er ist der neue, bessere, künftige Mensch.

Auch in einem Werbespot für die Duftlinie A *Men des Modedesigners Thierry Mugler tritt Pistorius als ein der Zukunft angehöriges Wesen auf, das zum Teil Mensch, zum Teil Maschine ist.6 (Abb. 1) Er trägt eine enganliegende Hose und Sprintprothesen, sein Oberkörper ist frei und muskulös. Sein Körper sowie die Prothesen sind silbern und wirken metallisch glatt. Der Clip spielt im Weltall: Ein Stern rast mit Lichtgeschwindigkeit auf die Erde zu. Es ist Pistorius, der sich als futuristischer Superheld auf einem Thron niederlässt. (Abb. 2)

Wie Thierry Mugler lichtete ihn auch das Männermagazin heat mit silbernen Sportprothesen, enganliegender Hose und durchtrainiertem Oberkörper ab. Das Silberne und Glatte deuten das Maschinenhafte des Körpers an, der eine besondere Ästhetisierung erfährt. Indem die Sprintprothesen als superhero legs in Szene gesetzt werden, tragen sie zur Attraktivität von Pistorius bei. Obwohl Prothesen gewöhnlich auf einen körperlichen Mangel hinweisen, ist dies hier nicht der Fall. Im Gegenteil: Sie scheinen Pistorius’ Körper, der unversehrt, ja sogar makellos wirkt, aufzurüsten.

Auch für andere Magazine ließ sich Pistorius fotografieren. Er war auf dem Titelblatt des Magazins Men’s Health und GQ Style, welches ihn als »Man Of The Future« ankündigte, und wurde vom GQ-Magazin zum bestaussehendsten Mann gewählt.

Oscar Pistorius’ Rennprothesen tragen den Markennamen Cheetahs (auf Deutsch Geparden, da sie die Morphologie von Gepardenbeinen haben. In vielen Zeitungsartikeln und Blogeinträgen wird dieser Sachverhalt aufgegriffen und überspitzt wiedergegeben, indem es heißt, er habe wahrhaftig die Beine eines Geparden.7  Die traditionellen Kategorisierungsgrenzen zwischen Mensch und Tier scheinen sich in Pistorius’ Person aufzulösen. So gesehen erinnert Pistorius mit seinen Cheetahs an ein Mischwesen aus dem klassischen Altertum: eine synthetische Kreatur aus Menschen- und Tierleib. Mit den Beinen des schnellsten Tieres der Welt ausgestattet, rennt er so schnell wie dieses. In diesem Vergleich klingt implizit mit, dass Pistorius’ Sprintprothesen, die Funktion zu laufen, nicht einfach wieder herstellen, sondern sie ganz neu gestalten. Indem er die Laufkraft eines Geparden hat, leisten seine Prothesen deutlich mehr als natürliche Beine.

In Anspielung auf seine Cheetah-Legs arrangierte die Online-Zeitung Mail Online ein Fotoshooting mit Pistorius und einem Geparden. Sie veröffentliche die Fotos unter dem Titel Walking on the wild side with blade runner Pistorius.8 Auf einem dieser Fotos (Abb. 3) kniet Pistorius in Startposition frontal zu einem Geparden unter der afrikanischen Sonne. Der Sportler und die Wildkatze befinden sich in Augenhöhe zueinander und schauen sich in die Augen. Es ist der Gepard, an dem sich Pistorius misst. Wer der Überlegene ist, wird auf dem nachfolgenden Foto deutlich: Pistorius steht aufrecht und überragt den Geparden in seiner Körpergröße ums Doppelte. Das Entscheidende auf diesem Foto ist: Pistorius hält den Geparden an der Leine. Er hat ihn fest im Griff. Er adoptiert die beste Fähigkeit des Geparden und übertrumpft ihn, indem sie mit ihm als Menschen verschmilzt.

Die Überwindung von Grenzen

Als Oscar Pistorius im Jahr 2008 den Wunsch äußerte, an den Olympischen Spielen in Peking teilzunehmen, wurde vor dem Internationalen Sportgerichtshof darüber verhandelt, ob Pistorius’ herausragende sportliche Leistung allein auf seiner körperlichen Fitness beruhe oder ob ihm seine Karbonfedern einen technischen Vorteil verschaffen würden. Im zweiten Fall wäre er wegen Techno-Dopings von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden.Unabhängig von den wissenschaftlichen Gutachten, die zur Beantwortung dieser Frage vor Gericht herangezogen wurden, herrschte in den Medien weitestgehend Konsens darüber, dass Pistorius durch seine Prothesen keinen unfairen Vorteil habe. Vielmehr sei Pistorius’ außerordentliche Leistung allein auf seine Willensstärke und sein hartes Training zurückzuführen.

Ein Blogeintrag ist in dieser Hinsicht besonders interessant: Die Verfasserin Rebecca Donohue behauptet darin, dass Pistorius immer ein bisschen mehr als nicht-behinderte Sprinter leisten müsse, um dasselbe Ergebnis wie sie zu erzielen.9 Deswegen würden sich nicht-behinderte Läufer durchschnittlich und sogar unzureichend fühlen, sobald sie sich mit ihm vergleichen. Damit verkehrt Donohue die übliche Sicht auf Behinderung. Es ist nicht mehr der Mensch mit einer Behinderung, der als unzulänglich gilt, sondern umgekehrt: Der körperlich Unversehrte steht im Schatten des Versehrten, sofern dieser in etwa dieselben Leistungen wie jener erbringt. In zahlreichen Kommentaren schließen sich Donohues Leser ihrer Meinung an. Des Weiteren stellt die Bloggerin die rhetorische Frage, ob Pistorius überhaupt noch als »UN-able-bodied«, im Deutschen etwa »körperlich leistungsunfähig«, gelte, wenn er nicht-behinderte Sportler schlage, und kommt zu dem Ergebnis, dass er es natürlich nicht tue. Ihr Gedanke ist, dass, sobald Pistorius dieselben Ergebnisse erzielt wie nicht-behinderte Sportler, er nicht länger als behindert gelte.

Obwohl in den Medien mehrheitlich die Meinung vertreten wird, dass die Sprintprothesen Pistorius keinen unfairen technischen Vorteil verschaffen, bricht sich an seiner Person ein ungezügelter Fortschrittsoptimismus bahn. Es wird spekuliert, dass, wenn ein Mensch mit Behinderung jetzt schon bahnbrechende Leistungen erbringe, es nicht mehr lang daure, bis er mehr schaffen werde als ein Mensch ohne Behinderung. Denn es gebe immer bessere Prothesen, so dass künstliche Glieder in nicht allzu ferner Zukunft natürliche Glieder funktional weit übertreffen werden. Für diese technischen Entwicklungen seien Menschen ohne entsprechende Gliedmaßen besonders ›anschlussfähig‹.

Bis zu seinem erzwungenen Karriereende 2013 war Oscar Pistorius Werbeträger für den erfolgreichen Sportbekleidungshersteller Nike. An drei Beispielen möchte ich aufzeigen, wie der Leichtathletik-Star in Nike-Werbekampagnen inszeniert wird. Friedrich von Borries hat sich in seinem Buch Wer hat Angst vor Niketown? Nike-Urbanismus, Branding und die Markenstadt von morgen mit den Werbestrategien der bekanntesten Sportmarke intensiv auseinandergesetzt. Er schreibt, dass die Protagonisten in den Werbeclips sowohl erfolgreiche Spitzensportler sind, die in ihrem Sport Herausragendes leisten, als auch solche, die »durch ihre sportlichen Leistungen soziale Schranken überwinden«.10Meines Erachtens repräsentiert Pistorius beides.

Beim ersten Beispiel handelt es sich um ein Plakat, auf dem Pistorius in einem Nike-Laufanzug und mit Sprintprothesen zu sehen ist und auf dem geschrieben steht: (Abb. 4) »I was born without bones below the knee. I only stand 5 ft 2. But this is the body I have been given. This is my weapon. How I conquer. How I wage my war. This is how I have broken the world record 49 times. How I become the fastest thing on no legs. This is my weapon. This is how I fight.«11Die Botschaft dieses Werbeplakats lautet, dass jeder es schaffen kann – so wie Pistorius, dem aufgrund einer Fehlbildung im Säuglingsalter die Unterschenkel amputiert wurden und der heute dennoch einer der schnellsten Menschen der Welt ist.

Das nächste Beispiel ist ein Werbespot, in dem Pistorius dazu aufruft, sich über die Grenzen, die andere einem auferlegen, hinwegzusetzen. Er sagt: »They told me I will never walk. That I never compete with other kids. It was an envy to play waterpolo or rugby. The motorcross wasn’t for people like me. And a man with no legs can’t run. Anything else you want to tell me?«12Pistorius ließ sich nicht davon beeindrucken, wenn andere ihm sagten, er könne aufgrund seiner Behinderung kein Sport treiben. Er konnte nicht nur jeden Sport machen, sondern nahm auch an Wettkämpfen teil und gewann mehrere Goldmedaillen. Das scheinbar Unerreichbare wurde Wirklichkeit. Die Bilder des Clips untermalen diese Aussage: Wir befinden uns in einem Vorort und blicken auf ein Familienhaus. Die nächste Aufnahme zeigt uns das Haus von innen. Im Kinderzimmer steht ein Rollstuhl, im Wohnzimmer auf einer Kommode sind Pokale und Medaillen aufgereiht. Dann schwenkt die Kamera in den Garten, zum Pool, an dessen Rand zwei Beinprothesen, ein Handtuch und eine Uhr abgelegt wurden und in dem Kinder schwimmen. Es erfolgt ein Szenenwechsel: Wir schauen Kindern beim Rugby zu, anschließend Erwachsenen beim Motorcross-Fahren und zuletzt Pistorius beim Sprinten auf der Tartanbahn. Es ist eindeutig: Dieser Clip handelt von einer Erfolgsgeschichte. Die Aufnahmen erzählen Pistorius’ Leben nach, der sich aus seinem Rollstuhl befreite und alles das tat, was ihm aufgrund seiner Behinderung nicht zugetraut wurde.

Ein weiterer Werbefilm, in dem Pistorius auftritt und der den Titel Always On Nike trägt, ruft dazu auf, für seine Ziele zu kämpfen.13 Der Athlet wird abwechselnd mal beim Training, mal in seiner Freizeit gezeigt. Ist Letzteres der Fall, dann spielt er mit seinem Hund im Park oder wirft einen Football. Dabei trägt er modische Nike-Turnschuhe, wohingegen wir ihn während des Trainings mit seinen Sprintprothesen sehen. In einer Szene erzählt uns Pistorius, dass ihm seine Eltern in seiner Kindheit immer wieder sagten, er solle nichts beginnen, das er nicht zu Ende bringt und für das er nicht bereit wäre, einhundert Prozent zu geben. Er fügt hinzu, dass er beim Training alles gebe; denn er wolle sicherstellen, dass sein Körper von den Zähnen abwärts perfekt ist. Er sei süchtig nach Perfektion und wolle schneller als jeder andere sein. Es schwingt die Aussage mit, dass nur durch Willensstärke, Selbstdisziplin und hartes Training Großes zu vollbringen ist. Zudem wird ein bestimmtes Körperbild entworfen: Der Körper unterliegt der Disziplinierung, Regulierung und Kontrolle. An einer Stelle des Clips zeigt Pistorius uns das Tattoo auf seiner linken Schulter. Es handelt sich um eine Passage aus 1. Korinther 9:26: »Therefore I do not run like someone running aimlessly; I do not fight like a boxer beating the air. No, I strike a blow to my body and make it my slave so that after I have preached to others, I myself will not be disqualified for the prize.«14Für unseren Zusammenhang besonders aufschlussreich ist der Satz: »Ich zerschlage meinen Leib und behandle ihn als Sklaven«. Für Pistorius ebenso für Nike – an dieser Stelle ist nicht mehr zwischen medialer und Selbstinszenierung zu unterscheiden – hat sich der Körper dem Willen zu unterwerfen. Pistorius scheint der ideale Botschafter für diese Einstellung gegenüber dem eigenen Körper zu sein.

In den drei genannten Beispielen spielt Leistung eine große Rolle, die wir laut Nike permanent steigern sollen. Denn nur wenn wir alles geben, können wir unsere Ziele erreichen. Hier klingt der Amerikanischen Traum an, den Nike – Borries zufolge – so gut wie keine andere Marke verkörpert. Wenn vom Amerikanischen Traum die Rede ist, denken wir an den amerikanischen Einwanderer, der es sprichwörtlich vom Tellerwäscher zum Millionär schafft. Hinter diesem Bild verbirgt sich die Aussage, dass der einzelne Mensch unabhängig von seiner Geburt selbst über sein Schicksal entscheidet. Jeder hat dieselben Ausgangschancen. Über den Erfolg entscheidet allein, wie hart dafür gearbeitet wird.

Oscar Pistorius hat diese Einstellung verinnerlicht, wie in einem Online-Artikel zum Ausdruck kommt. Ehrgeiz und Ausdauer haben für ihn einen hohen Stellenwert. Er selbst sagt: »Those are important lessons, when you try to do things sometimes and you don’t succeed and you give up, and you never really know that the potential could have been if you had stayed dedicated to something.«15

Unter dem weiter oben beschriebenen Werbefoto steht der bekannte Werbeslogan von Nike Just Do It. Der Slogan, der bereits seit 1988 die Hauptbotschaft der Sportbekleidungs- und Modemarke ist, fordert uns dazu auf, aus dem Alltag auszubrechen und selbstbewusst der unbekannten Zukunft entgegenzutreten.16 Borries vertritt die These, dass Just do it mehr als ein Werbeslogan sei, nämlich eine Philosophie, eine Philosophie »eines wettbewerbsorientierten Lebensstils«.9 Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Wettbewerb fußt, und um mithalten zu können, müssen wir uns fit halten und unser Bestes geben. Es sei der totale Kapitalismus, den der Slogan propagiert. Zweitens verberge sich hinter Nikes Werbebotschaft die protestantisch-calvinistische Auffassung, dass der Mensch durch Arbeit und Fleiß Gott näher kommt. Nur der hart Arbeitende wird von Gott mit Erfolg belohnt. Übertragen auf Pistorius erhält der Slogan Just do it eine bemerkenswerte Wendung: Offensichtlich unterliegen auch Menschen mit Behinderung dem leistungsorientierten Wettbewerb. Da die Behinderung eine körperliche Grenze darstellt, muss sie überwunden werden, was mit der richtigen Einstellung auch zu bewältigen ist. Doch Borries macht noch auf eine weitere Bedeutung des Werbeslogans aufmerksam, die genau das Gegenteil fordert: nämlich den Widerstand. Wir sollen jede Regel brechen und nur das tun, was wir möchten. In Fall von Pistorius heißt das: sich nicht durch andere behindert machen lassen, sondern ausbrechen. In welcher der drei Bedeutungen der Slogan auch genommen wird, eins steht fest: Nike fordert uns zur ständigen Selbstperfektionierung auf, was uns nur gelingt, indem wie unerbittlich gegen uns selbst sind. In diesem Sinne sagt Borries zu Recht, dass der Slogan auf die »kapitalistische Selbstausbeutung« hinauslaufe.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2012 erschien Oscar Pistorius als Zeichenfigur in dem Comicheft The Beano und erhielt darin den aussagekräftigen Spitznamen Oscar Victorious. Der Herausgeber erklärt seine Entscheidung, Pistorius als Comicfigur abzubilden, wie folgt: »When people told Oscar he couldn’t be an athlete due to his disability, he ignored them […] Oscar is an inspiration to our readers by making the most of every opportunity and by ignoring those who say ›You can’t do that.‹«17Wie der kleine Dennis, der Hauptcharakter des Comics, habe Pistorius nicht getan, was man ihm sagte, sondern sei seinen eigenen Weg gegangen. Der Herausgeber unterstellt, dass das Einzige, was zwischen Pistorius und dem Sport stand, diejenigen waren, die ihm aufgrund seiner fehlenden Unterschenkel nicht zutrauten, zu laufen. Im Comic zeigt Dennis dem Leser ein Foto, auf dem der Sprintergegen eine andere Figur ein Wettrennen läuft. Oscar kommt als Erster ins Ziel, während sein zweibeiniger Konkurrent von einem Igel in den Po gebissen wird und fürchterlich aufschreit. (Abb. 5)

Kommen wir noch einmal auf das Thema des Körperbildes zurück: In den Medien wird berichtet, dass Pistorius 2008 einen schlimmen Motorbootunfall hatte, bei dem er sich zwei Rippen, seinen Kiefer und seine Augenhöhlen brach. Im Gesicht musste er daraufhin mehrfach operiert werden. Erstaunlich ist nun, dass diese Sachlage so wiedergegeben wird, als sei Pistorius stolz darauf.18 Er setzt sich gerne der Gefahr aus. Dass sein Körper dabei zu Schaden kommen kann, scheint er in Kauf zu nehmen. Hat sich Pistorius bisher über seinen Körper hinweggesetzt, meint die Mail Online beobachtet zu haben, dass er vernünftiger geworden sei. Er sei zwar ein »Adrenalin-Junkie von Natur aus«, habe aber mit der Jagd nach der schwindelerregenden Schnelligkeit aufgehört. Anstatt mit seinen Sportwagen und Motorrädern über die Straßen zu brettern, habe er eine natürlichere Art des Rasens gefunden, nämlich auf dem Lauffeld. Die Autorin schlussfolgert: »[I]it is as if he has had to learn to respect his body; realising that it might just not be unbreakable after all.«19

Der Sieg über die Behinderung

Oscar Pistorius’ Karbonprothesen werden in den Medien als Cheetah Flex Foot carbon devices, synthetic legs, superhero legs, running blades etc. bezeichnet. Der Begriff Prothese wird gemieden und die Behinderung des Leichtathleten dadurch nivelliert.

In einer Fernsehreportage wird der Eindruck erweckt, dass Pistorius als Kind nicht durch seine Behinderung eingeschränkt war. Es werden Kinderfotos gezeigt, auf denen er mal mit, mal ohne Prothesen zu sehen ist, auf allen lacht er, er fährt mit seinem Bruder Go-Kart, klettert auf Mauern, tobt im Wasser, fährt Wasserski etc. Die Fotos suggerieren, dass er eine ganz normale Kindheit hatte.

Eine Anekdote aus Pistorius’ Kindheit wird immer wieder erzählt. Seine Mutter sagte zu ihm und seinem wenige Jahre älteren Bruder Carl: »Carl, zieh deine Schuhe an, Oscar, zieh deine Beine an, und das ist das Letzte, was ich dazu hören möchte!« Sie setzt die künstlichen Beine ihres Sohnes mit Schuhen gleich und behandelt sie auf diese Weise als etwas ganz Normales, über das nicht weiter gesprochen werden muss. In den Medien wird Pistorius’ Mutter für den Umgang mit der Behinderung ihres Sohnes besondere Anerkennung gezollt. Denn mit ihrer Hilfe sei Pistorius über seine Behinderung hinweggekommen.

In einem Interview wird Pistorius gefragt, ob er sich selbst für behindert hält, woraufhin er antwortet: »Ich habe zwei Behinderungen, aber eine Million Fähigkeiten. Ich habe mich dazu entschieden, mich auf meine Fähigkeiten zu konzentrieren. […] Ich wurde ein paarmal gefragt, ob ich gerne Beine hätte, ich möchte sie nicht zurück. Ich hätte lieber einen Ferrari 599GTO als meine Beine zurück.«20Pistorius’ Optimismus wird in Fernsehshows und Leserkommentaren begeistert aufgenommen. Die Fähigkeit zu laufen wird zu einer Fähigkeit unter vielen, und wir werden daran erinnert, dass wir doch alle unsere Stärken und Schwächen haben.

In vielen (Online-)Zeitungsartikeln heißt es, er liebe die Geschwindigkeit: Schnelle Autos, Motorräder und Mountainbikes fahre er ebenso gern wie Ski und Snowboard. Auf dem Titelblatt des New York Time Magazines ist Pistorius mit Laufprothesen abgelichtet; die Bildunterschrift lautet »his need for speed«. (Abb. 6) An anderer Stelle wird der Leichtathlet als »The Fastest Man With No Legs« bezeichnet.21In den genannten Beispielen wird Pistorius gerade mit dem identifiziert, was ihm als Amputierter von Natur aus verwehrt ist: die (besonders schnelle) Fortbewegung seines Körpers, wodurch der Eindruck entsteht, er habe seine Behinderung überwunden.

In der Tageszeitung DIE WELT heißt es, dass sich in Pistorius eine Geschichte offenbare, die weit über den Sport hinausgeht: »Der Junge aus Pretoria entschied sich früh, sich nicht in seine Rolle zu fügen. […] Er schaffte als Jugendlicher den Sprung in die Wasserball- und Tennisauswahl seiner Provinz. ›Ich bin nicht behindert, ich habe nur keine Beine‹, sagt er.«22 Laut Mediendarstellung steht Pistorius exemplarisch für einen neuen Umgang mit Behinderung: Auch wenn er faktisch keine Beine hat, möchte er nicht als beeinträchtigt gelten. Er widersetzt sich damit den Negativzuschreibungen, die das Adjektiv ›behindert‹ enthält.

In einer US-amerikanischen Fernsehreportage wird die These vertreten, dass erst Pistorius’ Behinderung ihn zu einem so erfolgreichen Athleten gemacht habe: Um als Kind mit den anderen Kindern mitzuhalten, musste Pistorius seine Stümpfe und seinen Oberkörper hart trainieren. Ohne es zu wissen, habe er sich dadurch bereits eine athletische Kondition aufgebaut. Sein Leben als Behinderter habe ihn vorbereitet auf das Leben als Athlet.23Außerdem sei er durch seine Behinderung besonders wetteifernd und konkurrenzfähig geworden, denn um etwas zu erreichen, habe er sich immer schon anstrengen müssen.

Schluss

Oscar Pistorius, der zum Sprinten Karbonfedern trägt, wird in den Medien als Cyborg inszeniert: Er ist ein Wesen, in dem Mensch und Maschine bzw. Mensch und Tier miteinander verschmelzen und das als solches uns ›normalen‹ Menschen überlegen ist. Als Mischwesen erbringt er hervorragende Leistungen. Er wirkt mit seinen futuristisch aussehenden Prothesen attraktiv und potent. Sie machen ihn zu etwas Einzigartigem.

Seine Behinderung hat er erfolgreich überwunden, schließlich erbringt er dieselben Leistungen wie nicht-behinderte Menschen. Dies ist ihm durch Willensstärke und hartes Training gelungen. Er ist das beste Beispiel dafür, dass jeder, der nur hart genug an sich arbeitet und sich seinen Körper Untertan macht, seine Ziele erreichen kann. Die Behinderung kann mit der richtigen Einstellung aber nicht nur überwunden werden. Sie kann auch als Chance angesehen werden: Denn Menschen mit Behinderung haben gelernt zu kämpfen, was sie stärker macht als Mensch ohne Behinderung.

Dass das Bild, das die Medien von Pistorius und seiner Behinderung zeichnen, nicht auf festen Fundamenten steht, wird besonders deutlich, wenn wir uns der medialen Inszenierung von Oscar Pistorius nach dem tragischen Ereignis im Februar 2013 zuwenden. Von dem Moment an, in dem er seine damalige Freundin Reeva Steenkamp erschießt, steht er nicht mehr wegen seiner sportlichen Erfolge im Rampenlicht, sondern wegen des Vorwurfs des Mordes. Firmen wie Nike kündigen ihre Werbeverträge mit dem einstigen Sportstar, und auch die Medien schauen nun mit ganz anderen Augen auf ihn. Sie suchen nach einer Erklärung für seine Tat und finden sie in seiner Behinderung: So habe ihn die Diskrepanz zwischen gefeiertem Held und der Erniedrigung, behindert zu sein, vermutlich fast zerrissen.24An anderer Stelle soll ausführlich dargelegt werden, wie Oscar Pistorius in den Medien nicht länger als »futuristischer Superheld«, sondern als »verkrüppelter Schurke« inszeniert wird. 

  • 1. Gemeint ist der Tod seiner damaligen Freundin Reeva Steenkamp, ein in Südafrika prominentes Model. Pistorius erschoss sie durch die geschlossene Tür, angeblich weil er glaubte, sie sei ein Einbrecher. Die Gerichtsverhandlung findet derzeit statt.
  • 2. Ich mache keinen Anspruch auf Vollständigkeit; vielmehr geht es mir um einen allgemeinen Abriss. Es scheint, als würde in den Medien vielfach auf die Autobiografie von Pistorius aus dem Jahr 2012 (Pistorius, Oscar: Blade Runner. My Story 2012)zurückgegriffen werden. Dieser Beitrag fragt nach der medialen Inszenierung ungeachtet der Selbstinszenierung von Pistorius.
  • 3. Siehe Dick, Philip K.: Blade Runner, München: Heyne 2002. Erst die 1993 erschienene Neuauflage erhielt den Titel Blade Runner.
  • 4. In diesem Zusammenhang bedeutet ›Blade Runner‹ ›Klingenschmuggler‹, das ist ein Schwarzhändler für medizinische Produkte.
  • 5. Vgl. Donuhue, Rebecca: »How Oscar Pistorius Makes You Feel Inadequate«, in: Sweet Mother, http://sweetmotherlover.wordpress.com/2012/08/05/how-oscar-pistorius-mak... [abgerufen am 09.05.2014].
  • 6. Der Werbeclip A Men by Thierry Mugler Frangrance ist unter https://www.youtube.com/watch?v=9bvvgNDxZcQ abrufbar (zuletzt aufgerufen 02.06.2014).
  • 7. Vgl. Saenz: »Synthetic Legs, Real Athlete – Oscar Pistorius ›The Blade Runner‹ Qualifies For the Olympics«.
  • 8. Williamson: »Oscar Pistorius exclusive: walking on the wild side«.
  • 9. Vgl. Donuhue: »How Oscar Pistorius Makes You Feel Inadequate«.
  • 10. Borries, Friedrich von: Wer hat Angst vor Niketown?: Nike-Urbanismus, Branding und die Markenstadt von Morgen, Rotterdam 2004, S. 37.
  • 11. Saenz: »Synthetic Legs, Real Athlete – Oscar Pistorius ›The Blade Runner‹ Qualifies For the Olympics«.
  • 12. Der Werbeclip Oscar Pistoius – Nike comersial ist unter https://www.youtube.com/watch?v=f43KR1JAIlA abzurufen (zuletzt aufgerufen 02.06.2014).
  • 13. Der Werbeclip Oscar Pistorius – Always On (Nike) ist unter https://www.youtube.com/watch?v=OHIUAgEYs5I abzurufen (zuletzt aufgerufen 02.06.2014).
  • 14. 1. Korinther 9:26 »So laufe ich nun nicht wie aufs Ungewisse; ich führe meinen Faustkampf nicht mit bloßen Luftstreichen, sondern ich zerschlage meinen Leib und behandle ihn als Sklaven, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.«
  • 15. Das Zitat findet sich in Williamson: »Oscar Pistorius exclusive: walking on the wild side«.
  • 16. Vgl. Theobald, Tim: »Top der Woche: Nike und ›Just Do It‹ – 25 Jahre und kein bisschen müde«, in: HORIZONT.NET (30.08.2013), http://www.horizont.net/standpunkt/topderwoche/pages/Top-der-Woche-Nike-... [abgerufen am 09.05.2014].

    9 Borries/von: Wer hat Angst vor Niketown?: Nike-Urbanismus, Branding und die Markenstadt von Morgen, S. 38.

  • 17. Parker, Sam: »Paralympics Star Oscar Pistorius Follows Jessica Ennis Into The Beano«, in: Huffpost culture (30.08.2012), http://www.huffingtonpost.co.uk/2012/08/30/oscar-pistorius-beano_n_18420... [abgerufen am 09.05.2014].
  • 18. Vgl. dafür Williamson: »Oscar Pistorius exclusive: walking on the wild side«.
  • 19. Ibid.
  • 20. Oscar Pistorius auf dem GSFM Barcelona 2012. Anzusehen unter http://www.youtube.com/watch?v=Z9PI4ywo514 (zuletzt aufgerufen 02.06.2014).
  • 21. Zum Beispiel in der gleichlautenden Fernsehdokumentation The Fastest Man On No Legs aus der Reihe »Extraordinary People« des US-amerikanischen Senders Channel 5. Anzusehen unter http://www.youtube.com/watch?v=DelLKShnzPY (zuletzt aufgerufen 02.06.2014).
  • 22. Putsch, Christian und Jens Hungermann: »Pistorius kämpft auf Prothesen gegen Vorurteile«, in: Welt Online (2011).
  • 23. Vgl. die Fernsehdokumentation The Fastest Man On No Legs.
  • 24. Vgl. Dieterich, Johannes: »Oscar Pistorius: Südafrikas gefallener Held«, in: Frankfurter Rundschau (2013).