»Für den Frieden provisorisch repariert«
Prothetik in der Nachkriegsliteratur von Toller und Borchert
Krieg in der Literatur
Der Krieg ist sicherlich nicht Vater aller Dinge, doch was die Entwicklung von Prothesen betrifft, kann er elterliche Rechte beanspruchen. Zwar hat es schon im alten Ägypten, vor rund 2600 Jahren, Prothesen gegeben, die auch zivile Verletzungen ausglichen. Der Erste Weltkrieg mit seiner veränderten Kriegstechnik einerseits – Artilleriegeschosse wie Schrapnelle statt Handfeuerwaffen1 – und seinem verbesserten Sanitärwesen andererseits war jedoch ein wesentlicher Motor für die Entwicklung und Verbreitung von Prothesen. Da diese auf einen Schlag in Massen gebraucht wurden – allein in Deutschland gab es 1,5 Millionen Kriegsinvalide2 –, nahm insbesondere die Herstellung von Arbeitsprothesen (im Gegensatz zu Schmuckprothesen) stark zu.3 Das berühmteste Beispiel für die neuen, durch Muskelkraft beweglichen Ersatzglieder ist sicherlich der Sauerbruch-Arm. Nach Ende des Krieges entwarf die Firma Otto Bock erstmals Prothesen, die auf die massenhafte Nachfrage antworten konnten, weil sie die einzelnen Passteile industriell herstellte.4 Markus Dederich spricht von einer regelrechten »Utopie der Prothese«5 nach dem Ersten Weltkrieg.
Die Allgegenwärtigkeit der versehrten Veteranen führte nicht nur zu neuen technischen Entwicklungen, sondern war auch ein »historische[r] Einschnitt in der Wahrnehmung von Behinderung«:6 Durch die Omnipräsenz von Entstellungen und Verstümmelungen verloren die ehemals beliebten Freakshows nach dem Ersten Weltkrieg ihre Anziehungskraft.7 Mit den »lebenden Kriegsdenkmälern«,8 wie Joseph Roth sie nannte, brachen die Greuel und Schrecken des Krieges in den Alltag ein. Die Gegenwart der versehrten Leiber hinterließ auch in der Literatur der Zwischen- und Nachkriegsjahre deutliche Spuren. Die Dramen Hinkemann von Ernst Toller und Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert zeigen, daß die Ersatzglieder nicht nur eingesetzt werden, um die Verwundung durch den Krieg zu illustrieren, sondern auch die Entmenschlichung und Verdinglichung, denen die Soldaten unterworfen waren, sinnlich darzustellen. Auch in zeitgenössischen Serien wie Downtown Abbey oder Boardwalk Empire hat der Erste Weltkrieg und mit ihm eine spezifische Metaphorik der Prothese Konjunktur.
Ernst Tollers »Hinkemann«
Ernst Tollers expressionistisches Drama Hinkemann, das der Autor 1921/22 im Gefängnis verfasste und das 1923 in Leipzig uraufgeführt wurde, handelt von dem Kriegsheimkehrer Eugen Hinkemann, der im Ersten Weltkrieg sein Bein verloren hat und kastriert wurde. »Hinkemann« ist eine »Allegorie der Frontgeneration« nach dem Ersten Weltkrieg und verhandelt das Problem der Wiedereingliederung der Soldaten in Wirtschaft und Gesellschaft.9 Das Stück fragt explizit danach, ob ein »Krüppel« glücklich sein könne, und markiert damit zugleich eine Wende in Tollers Schaffen: Anders als in seinen utopischen früheren Werken thematisiert Toller hier die allgemein-menschliche Tragik der Existenz. Leid ist naturbedingt und deshalb nicht politisch lösbar. Das drastische, ja bizarre Stück löste seit der Dresdner Premiere von 1924 einen Reigen von Skandalen aus und musste wegen Morddrohungen abgesetzt werden. Trotzdem war es in anderen Städten, auch international, ausgesprochen erfolgreich; die Hauptrollen wurden in Berlin von Heinrich George und Helene Weigel gespielt (Volksbühne 1927).10
Die Figurenkonstellation erinnert an Georg Büchners Woyzeck: Hinkemanns Frau Grete entfremdet sich von dem körperlich wie seelisch lädierten Hinkemann, der ihr unheimlich ist und vor dem sie sich sogar ekelt, wie sie Paul Großhahn erzählt: »… mein Eugen, den haben sie im Krieg draußen so zugerichtet… und jetzt ist er ein Krüppel… ich schäm mich ja so… ich kanns nicht erklären…Verstehen Sie mich doch, Herr Großhahn, er ist gar kein Mann mehr… […]. Der Mensch dauert mich so… Was war das für ein Mann vor dem Krieg! Das blühende Leben! Aber heute… nur noch grübeln kennt er. Er hadert mit Gott und hadert mit den Menschen… Und wenn er mich anschaut, meine ich, er will mich durch und durch schauen, als ob ich ein Ding wäre und kein Mensch. Und manchmal, da fürchte ich mich vor ihm… da mag ich ihn nicht leiden… da ekelt er mich!«11
Während seine Frau mit Paul Großhahn eine Affäre beginnt, meldet sich Hinkemann auf eine Annonce, die »erstklassiges Menschenmaterial« für eine »sensationelle Nummer« sucht.12 Um Geld zu verdienen, tritt er heimlich in einer Schaubude mit einer bizarren Nummer auf, in der er Mäusen und Ratten allabendlich den Kopf abbeißt: »Volk will Blut sehen!!!« ist die Devise des Budenbesitzers. Angepriesen wird Hinkemann dem Publikum als »Homunkulus, deutscher Bärenmensch! Frißt Ratten und Mäuse bei lebendigem Leibe vor Augen des verehrten Publikums! Der deutsche Held!«13 Als seine Frau ihn zufällig in der Freakshow sieht, bereut sie ihre Affäre zutiefst und will ihm künftig dienen »als wäre er mein Heiland«.14
Explizit thematisiert werden Prothesen in dem Stück nur einmal: Hinkemann führt in einer Arbeiterkneipe eine politische Diskussion, in der er Zweifel am Glücksversprechen einer künftigen Gesellschaft äußert: »Ich sage mir… wenn ein Mensch nun krank ist… von Natur krank und innen krank, unheilbar krank…oder außen krank, unheilbar krank… können dann vernünftige Verhältnisse einen solchen Menschen glücklich machen?«15 Sein Gesprächspartner, ein Mann mit dem sprechenden Namen Michel Unbeschwert, ist davon überzeugt, daß die »Krüppel« in einer zukünftigen Gesellschaft genauso glücklich sein können wie alle anderen. »Wenn einer zum Beispiel keine Arme hat?«,16 wendet Hinkemann ein. »Der bekommt künstliche Arme. Wenn es ihm möglich ist zu arbeiten, wird ihm eine leichte Arbeit zugewiesen.« Doch Hinkemann bohrt immer weiter und fragt schließlich, was mit einem wäre, dem im Krieg das »Geschlecht fortgeschossen wurde«.17 Seine »Genossen« wissen darauf keine bessere Antwort, als dass es in der künftigen Gesellschaft keinen Krieg mehr geben würde.
Mehr noch als unter seinem zerschossenen Leib leidet Hinkemann unter den Menschen und der Zeit, in der er lebt: »Ich bin durch die Straßen gegangen, ich sah keine Menschen… Fratzen, lauter Fratzen. Ich bin nach Hause gekommen, ich sah Fratzen… .«18 Dem Budenbesitzer berichtet er, daß er sehend geworden sei. Er habe verstanden, dass der Krieg zwar vorüber ist, doch die Menschen sich immer noch »unter Gelächter« ermordeten. Doch der Budenbesitzer ist in seinem rein ökonomischen Denken so verfangen, dass er Hinkemanns Gedankengänge nicht nachvollziehen kann: Mit »Kriegsgreuel-Panoptikum verdienen die heute keine zehn Pfennig mehr«,19 ist seine Antwort.
Nachdem Hinkemann eine Priapus-Statue erworben und einen grotesken Tanz vor ihr veranstaltet hat, konfrontiert er seine Frau mit ihrer Untreue und will sie verlassen. Sie kann ihn nicht überzeugen, dass sie ihn in der Schaubude nicht ausgelacht hat, wie ihm von Paul Großhahn eingeredet wurde. Trotz ihres Flehens sieht Hinkemann für ihre Ehe keine Zukunft. Daraufhin geht Grete hinaus und stürzt sich aus dem Fenster in den Hof. Hinkemann bleibt allein zurück, der Kontingenz seines Schicksals ausgeliefert: »Wahllos trifft es. […] Jeder Tag kann das Paradies bringen, jede Nacht die Sintflut.«20
Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür«
So wie Hinkemann Motive von Büchners Woyzeck aufnimmt, bezieht sich Wolfgang Borcherts berühmtes Kriegsheimkehrerstück Draußen vor der Tür (1947) auf das expressionistische Vorbild. Auch der ehemalige Wehrmachtssoldat Beckmann ist ein ›Hinkemann‹ – er hat sich ein »steifes Bein« als »Andenken« aus Russland mitgebracht,21 seine Kniescheibe ist zertrümmert (wie auf Abb. 1 zu sehen, stützt sich Beckmann in Inszenierungen häufig auf sogenannte »Achselstützen«, siehe auch Obj. 1). Wie ein »Gespenst« sieht er aus, weil er keine andere Sehhilfe als seine alte Gasmaskenbrille hat.
Als Beckmann – er nennt sich nur Beckmann, als hätte ihm der Krieg den Vornamen geraubt –aus der Kriegsgefangenschaft zurück in seine Heimatstadt Hamburg kehrt, findet er Tisch und Bett seiner Frau anderweitig besetzt. Er weiß keinen anderen Ausweg, als sich in der Elbe zu ertränken: »Ich kann nicht mehr hungern. Ich kann nicht mehr humpeln und vor meinem Bett stehen und wieder aus dem Haus raushumpeln, weil das Bett besetzt ist. Das Bein, das Bett, das Brot – ich kann das nicht mehr, verstehst du!«,22 schreit er dem personifizierten Fluss entgegen. Doch die Elbe hat wenig Mitleid mit dem neuen Hinkemann. Er ist nicht der erste Soldat, der sich in ihre Fluten retten will: »Und die hinken alle irgendwo.«23 Sie spuckt ihn kurzerhand wieder ans Ufer.
Die Stationen, die Beckmann auf der Suche nach einem Zuhause und einer moralischen Rückkehr in die Gesellschaft abgeht und deren letzte wieder die Elbe sein wird, führen ihn zu einer jungen Frau, zu seinem ehemaligen Oberst und einem Kabarettdirektor. Sein Unterschlupf bei dem Mädchen wird durch den »Einbeinigen« gestört, eine Erscheinung ebenso gespensterhaft wie er selbst. Beckmann kann bei der einfühlsamen jungen Frau nicht bleiben, weil der Einbeinige nicht nur ihr Mann ist, sondern auch sein eigener Untergebener war, für dessen Tod er verantwortlich ist. Aus diesem Grund macht er sich auf den Weg zu seinem Vorgesetzten: Er will seine Verantwortung zurückgeben. Doch sein Oberst hält ihn für einen Komiker und rät ihm zur Bühne.
In Borcherts Stück gibt es kein Entkommen vor der Vergangenheit. Beckmann wird heimgesucht von den Alpträumen des Krieges, in denen es von Skeletten, Versehrten und Prothesen nur so wimmelt. Die Prothesen unterstreichen erstens die Entindividualisierung und Verdinglichung durch den Krieg: Beckmann hat im Zuge des Krieges seinen Vornamen verloren, er ist zu einem »Möbelstück Beckmann«24 geworden. Als das Mädchen vor seiner Gasmaskenbrille erschrickt, gibt er zu: »Man kriegt so ein graues Uniformgesicht davon. So ein blechernes Robotergesicht. So ein Gasmaskengesicht. Aber es ist ja auch eine Gasmaskenbrille.« Doch sie empfindet ihn weniger als Roboter denn als »Gespenst«: »Vielleicht bin ich auch ein Gespenst. […] Ein Gespenst aus dem Krieg, für den Frieden provisorisch repariert.«25 Halb Gespenst, halb Roboter empfindet Beckmann sich als verdinglichtes, entmenschlichtes Wesen, das als Mittel zum Zweck gebraucht und verbraucht wurde. Auch der Oberst, verstört durch seinen Auftritt, rät ihm: »Werden Sie erst mal wieder ein Mensch.«26
Doch Beckmann ist der Weg zurück in die Normalität versperrt, er kann nicht »repariert« werden. Seine merkwürdige Brille unterstreicht nicht nur seine automatenhafte Existenz. Wie bei Teiresias oder dem geblendeten Ödipus wird die Sehbehinderung in eine Scharfsichtigkeit verkehrt: Beckmann steht immerzu vor Augen, was seine Landsleute längst ausgeblendet haben. Er kann keinen Frieden finden, weil er von seiner Schuld gegenüber dem »Einbeinigen« verfolgt wird, der den Posten auf Befehl Beckmanns halten musste.27 Dem Oberst, den Beckmann aufsucht, um ihm die Verantwortung zurückzugeben, erzählt er seinen stets wiederkehrenden Traum: Obwohl er beide Arme verloren habe, spiele ein fetter Mann auf einem Riesenxylophon, dessen Hölzer aus Knochen sind. Seine Arme sind durch Prothesen ersetzt, »die wie Handgranatenstiele aussehen, hölzern und mit einem Metallring.«28 »Und dann stehe ich da, vor den Millionen hohlgrinsender Skelette, vor den Fragmenten, den Knochentrümmern, mit meiner Verantwortung, und lasse abzählen.«29 Angesichts der Horror des Krieges meint Beckmann, dass »[d]ie Kopfamputierten […] noch die Glücklichsten«30 gewesen seien.
Die Brille, vor der jeder erschrickt und die der Oberst als »Zimt« bezeichnet, den Beckmann doch wegschmeißen solle (der Krieg sei doch vorbei!), steht für das Sich-nicht-abwenden-Können vom Vergangenen, für die grausame Gabe der Klarsicht. Ironisch gespiegelt wird Beckmanns Außenseiterperspektive in dem innigen Verhältnis eines Kabarettdirektors, bei dem er zuletzt sein Glück versucht, zu seinen »drei erstklassigen rassigen Hornbrillen«: »Von meinen paar Brillen kann ich keine entbehren. Meine ganzen Einfälle, meine Wirkung, meine Stimmungen sind von ihnen abhängig.«31 Offenbar sind es hier die Brillen, die für die Weltanschauung, die Perspektiven sorgen.
- 1. Simon Bihr: »Entkrüppelung der Krüppel«. Der Siemens-Schuckert-Arbeitsarm und die Kriegsinvalidenfürsorge in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, TM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 21(2), Juni 2013, S. 107–141, hier S. 107.
- 2. Ibid.
- 3. Ibid., S. 115.
- 4. Vgl. zur Geschichte der Firma Otto Bock: http://www.ottobock-group.com/de/historie/ (zuletzt abgerufen am 30. 5.2014).
- 5. Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. transcript (Bielefeld) 2007, S. 105.
- 6. Ibid., S. 104.
- 7. Urs Zürcher: Monster oder Laune der Natur: Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780–1914. Frankfurt am Main 2004 (Campus Verlag), zitiert nach: Dederich, »Körper, Kultur und Behinderung«, S. 103.
- 8. Joseph Roth: »Lebende Kriegsdenkmäler«, in: ders.: Werke 1: Das Journalistische Werk 1915–1923, Köln 1989 (Kiepenheuer & Witsch), S. 347.
- 9. Wolfgang Frühwald: »Nachwort«, in: Ernst Toller: Hinkemann. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1971 (Reclam), S. 71–93, hier S. 81.
- 10. »Aufführungen«, in: Ernst Toller: Hinkemann. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1971, S. 60.
- 11. Toller: Hinkemann, S. 12.
- 12. Ibid., S. 15.
- 13. Ibid., S. 18.
- 14. Ibid., S. 21.
- 15. Ibid., S. 26
- 16. Ibid., S. 26.
- 17. Ibid., S. 27.
- 18. Ibid., S. 52.
- 19. Ibid., S. 36.
- 20. Ibid., S. 54.
- 21. Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür, in: ders.: Das Gesamtwerk. Hamburg 1993 (Rowohlt Verlag), S. 99–165, hier S. 109.
- 22. Ibid., S. 106f.
- 23. Ibid., S. 107.
- 24. Ibid., S. 109.
- 25. Ibid., S. 113f.
- 26. Ibid., S. 128.
- 27. Ibid., S. 117.
- 28. Ibid., S. 123.
- 29. Ibid., S. 124.
- 30. Ibid., S. 120.
- 31. Ibid., S. 131f.