Material und Form

Aus der Prothetik-Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums (Teil 2)

Eine Voraussetzung sowohl für den ästhetischen wie für den funktionalen Ersatz von Körperteilen ist die Verwendung zweckmäßigen Materials. Es muss sich einerseits gut formen lassen und andererseits die Solidität und Handhabbarkeit des Körperersatzteils garantieren. Welche Partien oder Funktionen auch zu ersetzen waren – immer waren Prothesenhandwerk und -industrie auf der Suche nach neuen Werkstoffen, um verlässliche, angenehm zu tragende Körperersatzteile fertigen zu können. Sie erprobten dabei Holz, Metall und Kunststoffe. Die Objekte in der Sammlung des DHMD erzählen diese Geschichte der Suche nach geeignetem Material seit dem späten 19. Jahrhundert. Sie spiegeln dabei auch die Geschichte etablierter und neu aufkommender Stoffe und ihrer Formung wider.

Material

Arm- und Beinprothesen sollen oftmals unauffällig sein und müssen stets starken Belastungen standhalten. Da sich ihre Trägerinnen und Träger bei alltäglichen Handhabungen auf sie verlassen wollen, müssen sie jederzeit einsatztauglich sein. Dabei kommen sie zum einen durch den engen Kontakt mit dem Körper mit dessen Ausscheidungen in Berührung und sind zum anderen dem Schmutz der Umwelt ausgesetzt. Sie müssen folglich von geringem Gewicht, belastbar, haltbar und leicht zu reinigen sein. Diese Anforderungen bestimmten die Suche nach geeigneten Werkstoffen, wie ein Blick auf ausgewählte Objekte aus der Geschichte der Hand- und Armprothetik zeigt.

Holzhand (s. Obj. 1): Sowohl Holz als auch Metall wurden bereits in der Antike zum Bau von Arm- und Beinprothesen verwendet. Kostspieliges Eisen- und Kupferblech konnten sich bis zum Beginn der Neuzeit vermutlich nur begüterte Patientinnen und Patienten leisten. Holz hingegen war für viele erschwinglich.1 In der Armprothetik wurde es seit Mitte des 20. Jahrhunderts durch Kunststoffe weitgehend verdrängt, in der Beinprothetik behauptet es sich aber bis heute. Seine Vorteile liegen in der guten Bearbeitbarkeit, Möglichkeit der Nachpassung, gute thermische Qualitäten und geringes Gewicht.2

Im Bestand des DHMD befindet sich eine hölzerne Prothesenhand, die 1870 als Gesellenstück im preußischen Halle an der Saale gefertigt wurde. Vermutlich hatte sie ein Bandagist oder Orthopädiemechaniker hergestellt, denn im 19. Jahrhundert lag der Bau von Prothesen in deren Händen. Da der Bedarf an solchen Hilfsmitteln – zumindest bis zu den Kriegen der 1860er und 1870er Jahre – gering war, konnten sie sich in ihrem Handwerk auf kunstfertige Ausführungen konzentrieren.3 Davon zeugt auch die Prothesenhand, die aus relativ leichtem Lindenholz gearbeitet ist. Zwar beschränken sich ihre funktionellen Möglichkeiten auf ein einfaches Gegenhalten, doch lassen sich ihre beweglichen Finger und das Handgelenk in unterschiedliche Positionen bringen. Das schnitzbare Lindenholz erlaubte dem Handwerker, dem Stück die Anmutung einer menschlichen Hand zu verleihen. So versah er sie sogar mit Fingernägeln und Handlinien (s. Abb. 1).

Unterarmprothese aus Leder (s. Obj. 2): Leder, das seit dem 17. Jahrhundert in den Prothesenbau Einzug erhalten hatte, avancierte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Werkstoff.4 Es lässt sich gut walken und ist leicht formbar. Die Haut verträgt Leder gut, Gerbstoffe können allerdings allergische Reaktionen auslösen. Zudem bedürfen Lederprothesen häufiger Wartung und intensiver Pflege, denn bei starkem Schwitzen kann das Material hart und spröde werden und einen unangenehmen Geruch entwickeln.5

Das DHMD besitzt mehrere Lederprothesen. Eine davon gehörte einem Mann (1910–2002?), der seinen rechten Unterarm während des Zweiten Weltkriegs beim Einsatz an der Ostfront verloren hatte. Die aus Leder und Metall gefertigte Arbeitsprothese erhielt er 1947 nach seiner Rückkehr ins Ruhrgebiet. Er nutzte sie u. a. bei der Gartenarbeit. Daneben besaß er noch eine Kosmetikprothese.

Der Träger schnallte die Prothese am Oberarm fest, seinen Unterarmstumpf bettete er in den oberen Teil der Prothese ein. Das jeweilige Arbeitsgerät wurde aus einem Gewinde aus Metall gehalten. Die Lederprothese ist seitlich mit Aluminiumverstrebungen versehen, die über ein Gelenk zwischen Ober- und Unterarmteil verfügen. Dadurch blieb das Ellenbogengelenk des Trägers beweglich. Die Metallgelenke sind mit Lederlappen bezogen, um die Kleidung vor der Beschädigung durch spitze Kanten zu schützen. Auch eine Pflasterverklebung am unteren Ende des Prothesenarms, die vermutlich erst später angebracht wurde, bewahrte die Kleidung vor Schrauben, mit denen das Gewinde an der Prothese befestigt war. Im Gegensatz zum kantig-festen Metall bot das biegsam-glatte Leder keine Reibung.

Oberarmprothese aus Polypropylen (s. Obj. 3): Mit dem Einzug der Kunststoffe in die Orthopädietechnik verloren seit den 1950er Jahren alle anderen Werkstoffe nach und nach an Bedeutung. Zwar werden Holze, Metalle und Leder bis heute verwendet, Kunststoffe haben ihnen jedoch den Rang abgelaufen. Durch die gut formbaren Materialien ließ sich das Gewicht der Prothesen reduzieren, ohne dass diese an Stabilität einbüßten. Allerdings ging mit den ersten Kunststoffen auch die Gefahr einer Gesundheitsschädigung einher, denn im Kontakt mit der Haut hatten sich bei einigen Stoffen Öle und Fette gelöst, waren in den Organismus eingedrungen und hatten allergische Reaktionen ausgelöst.6 Als risikolos erwies sich Polypropylen, das 1954 erstmalig synthetisiert wurde und seither zu einem der wichtigsten Kunststoffe avanciert ist.7 Polypropylen ist geruchlos, hautverträglich und sehr stabil. Es ist zudem wärmebeständig. Bei starker Kälte wird es allerdings leicht spröde.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nutzt diesen Kunststoff für die Fertigung von Prothesen für körperbehinderte Menschen in Kriegs- und Krisengebieten. Als es 1979 begann, Betroffene mit orthopädietechnischen Hilfsmitteln zu versorgen, setzte es zunächst auf lokal verfügbare Materialien wie Holz, Leder und Metall. Seit das IKRK jedoch zu Beginn der 1990er Jahre die Produktion standardisierte, verwendet es im wesentlichen Polypropylen, aus dem die hier gezeigte Oberarmprothese gefertigt ist, und aufschäumbare Polyurethane. Diese Materialen erlaubt dem IKRK, die Patientinnen und Patienten mit preiswerten und leicht erhältlichen, langlebigen und unkompliziert zu wartenden Hilfsmitteln zu versorgen, die dem Klima in unterschiedlichen Weltregionen standhalten.8

Form und Größe

Köperersatzteile sollen sich in das Körperbild einfügen, ihren Trägerinnen und Trägern keine unnötige Last aufbürden und möglichst unauffällig wirken. Die Suche nach geeigneten Formen zieht sich durch die Geschichte der Körper(funktions)ersatzteile, wie ein Blick auf die Herzschrittmacher in der Sammlung des DHMD zeigt.

1958 gelang erstmals die Einpflanzung eines Herzschritt­machers. Daraufhin setzte in Europa und den USA eine breitere klinische Anwendung der Taktgeber ein. Zugleich bemühten sich diverse Firmen um deren technische Weiterentwicklung. Die ersten Geräte waren so groß wie ein Handteller und wurden unter der Bauchdecke platziert. Im Wettlauf um den neuen gewinnbringenden Markt bemühten sich die Hersteller jedoch um die Entwicklung immer kleinerer Geräte.9

»QRS Inhibited Pacemaker EM 157/70« (s. Obj. 4): Der »QRS Inhibited Pacemaker EM 157/70« war Mitte der 1970er Jahre auf dem Markt. Er ist mit 7,2 x 4,2 x 2,2 Zentimetern noch vergleichsweise groß. Aufgrund seiner Größe und Form war er nach der Implantation im Bereich des Schlüsselbeins von außen auffällig sichtbar.10

»Sigma™ SSIR« (s. Obj. 5): Jüngere Schrittmachergenerationen wie die der »Sigma™ SSIR« sind klein, flach, leicht und passen sich der Anatomie besser an als die älteren Modelle. Sie werden in der Regel im Bereich des Brustmuskels implantiert und sind aufgrund von Form und Größe nicht sichtbar. Doch selbst sie wirken groß im Vergleich mit den Taktgebern, an denen Entwicklerinnen und Entwickler aktuell feilen: Deren Größe entspricht einer kleinen Tintenpatrone, und sie lassen sich direkt im Herzmuskel verankern.11

  • 1. Vgl. Krieghoff, Rolf: Moderne Werkstoffe und Antriebe im Kunstglied- und orthopädischen Apparatebau, Leipzig 1969, S. 5.
  • 2. Vgl. Baumgartner, René/Botta, Pierre: Amputation und Prothesenversorgung, Stuttgart/New York 2008, 3. Aufl., S. 134.
  • 3. Vgl. Kienitz, Sabine: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Köperbilder 1914–1923, Paderborn et al. 2008, S. 172.
  • 4. Vgl. Krieghoff, Rolf: Moderne Werkstoffe und Antriebe im Kunstglied- und orthopädischen Apparatebau, Leipzig 1969, S. 5f.
  • 5. Vgl. Baumgartner, René/Botta, Pierre: Amputation und Prothesenversorgung, Stuttgart/New York 2008, 3. Aufl., S. 134.
  • 6. Vgl. Baumgartner, René/Botta, Pierre: Amputation und Prothesenversorgung, Stuttgart/New York 2008, 3. Aufl., S. 135.
  • 7. Vgl. Morris, Peter J.: Polymer Pioneers. A Popular History of the Science and Technology of Large Molecules, Philadelphia 1990, 2. Aufl., S. 76.
  • 8. Vgl. International Committee of the Red Cross: Trans-Humeral Prosthesis. Manufacturing Guidelines, Genf 2006. http://www.icrc.org/eng/assets/files/other/eng-trans-humeral.pdf, S. 2.
  • 9. Vgl. 50 Jahre Herzschrittmacher – Vom elektrischen Wiederbelebungsstuhl zum modernen ICD, in: aerzteblatt.de, 8.10.2008. http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/33958 (aufgerufen am 11.09.2014); Hahn, Susanne: »Und der Tod wird nicht mehr sein…« Herz und Wiederbelebung, in: Dies. (Hrsg.): Herz. Das menschliche Herz – der herzliche Mensch, Dresden/Basel 1995, S. 128–145, S. 140.
  • 10. Vgl. QRS Inhibited Pacemaker EM 157/70, in: Deutsches Museum. http://www.deutsches-museum.de/sammlungen/medizintechnik/sammlung-friese/herzschrittmacher/em-15770/ (aufgerufen am 11.09.2014).
  • 11. Vgl. Overbeck, Peter: Neue Mini-Systeme ohne Elektroden, in: Ärzte Zeitung online, 27.12.2013. http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/herzkreislauf/article/852495/herzschrittmacher-neue-mini-systeme-elektroden.html (aufgerufen am 11.09.2014).