Schnittstellen
Aus der Prothetik-Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums (Teil 3)
Ein sächsischer Landwirt, der im Zweiten Weltkrieg sein rechtes Bein verloren hatte, legte einen Stelzfuß an, wenn er seiner Arbeit nachging. Die robuste Holzprothese tat viele Jahre ihren Dienst. Wir wissen lediglich von einer einzigen Last, die der Landwirt mit ihr hatte: Der lederne Schaft, der seinen Amputationsstumpf umfing, weitete sich mit der Zeit. Die Prothese saß daher nicht mehr gut. Der Landwirt musste nun zusätzlich Stumpfstrümpfe anziehen, um den zuverlässigen Sitz seines Arbeitsbeins zu sichern. Diese kleine Episode verweist auf die sensible Schnittstelle zwischen Körper und Artefakt, die sich als ein Grundproblem durch die Geschichte der Prothetik zieht und um die deren Aufmerksamkeit kreiste. Davon erzählen etliche Objekte in der Sammlung des DHMD.
Potenzial der Schnittstelle
Seit dem 19. Jahrhundert galt der arbeitende Körper als menschliche Maschine und »Ort der Krafterhaltung und -umwandlung«.1 Vor diesem Hintergrund begann die Prothetik ihn als Kraftreserve zu konzipieren, sein Potential zu erschließen und auf Prothesen zu übertragen. Dabei konzentrierte sie sich zunehmend auf die Schnittstelle zwischen Stumpf und Kunstglied. Dies zeigt sich vor allem im Hinblick auf die Nachbildung von Händen, die eine besondere Herausforderung darstellte.
Prothesen mit Kraftzugbandagen (s. Obj. 1): Mechanische Prothesen der Frühen Neuzeit waren zunächst per Hand zu bedienen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist es jedoch möglich, Armstümpfe in Schäfte einzubetten und die Prothesen über Kraftzüge zu steuern.2 Dabei wird die verbliebene Muskulatur am Arm oder an der Schulter zur aktiven Steuerung genutzt. Die Kraftzüge übertragen Bewegungen auf die Prothese und wirken auf die Prothesengelenke ein. Eine Voraussetzung für die Kraftübertragung ist ein enger Kontakt zwischen Stumpf und Prothese.3
Sauerbruch-Prothesen: Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) entwickelte ein Verfahren, um die verbliebene Muskelkraft direkt im Amputationsstumpf zur willkürlichen Bewegung der Armprothese zu nutzen. Dabei legte er einen mit Haut ausgekleideten Kanal durch die Muskulatur. Durch diesen Kanal führte er einen Elfenbeinstift, der Muskulatur und Prothese über einen Drahtzug verband. Die Schnittstelle lag jetzt im Inneren des Arms und die Trägerin oder der Träger konnte nun die Prothese durch Muskelbewegungen steuern. Dieses Verfahren setzte sich nicht dauerhaft durch.4 Das DHMD verfügt über drei Sauerbruch-Prothesen, die auf die 1950er bis 1980er Jahre datieren.
Myoelektrische Prothesen: Auch myoelektrische Armprothesen, die seit den 1960er Jahren auf dem Markt sind und von denen das DHMD mehrere besitzt, nutzen die Muskelpotentiale im Armstumpf. Bei der Kontraktion von Muskeln entstehen elektrische Impulse, die auf der Hautoberfläche messbar sind. Diese Impulse werden von Elektroden im Prothesenschaft aufgenommen, verstärkt und an einen Elektromotor weitergeleitet, der die Prothesenhand öffnet, schließt oder dreht.5 Auch hier muss ein enger Kontakt zwischen Prothese und Stumpf gewährleistet sein.
Auf dem Weg ins Innere des Körpers
Im 20. Jahrhundert begannen die Schnittstellen mehr und mehr ins Körperinnere zu wandern: Statt auf Kraftzugbandagen zu vertrauen, verband Sauerbruch die Prothese mit dem Muskel; statt die Impulse externer Herzschrittmacher über Leitungen durch die Haut zum Herzen zu führen, werden die Geräte in der Nähe des Muskels implantiert; statt Epithesen anzukleben, werden sie mittels in den Knochen implantierter Magnete befestigt. Anhand von Sehhilfen, deren Geschichte das DHMD mit der Sammlung Münchow dokumentiert, lässt sich diese Entwicklung besonders gut nachvollziehen.6
Brillen: Versuche, die Sehkraft mithilfe geschliffener Gläser zu verbessern, lassen sich schon für das Mittelalter nachweisen. In der Neuzeit fanden Sehgläser aufgrund einfacherer Herstellung und günstigerer Materialien in der breiteren Bevölkerung Verwendung.7 Ob als Lorgnette mit der Hand gehalten oder als Ohrenbrille mit den Ohrmuscheln, ob als Monokel mit dem Lidmuskel festgeklemmt oder als Kneifer auf der Nase – alle Sehhilfen befinden sich in einigem Abstand von den Augen, die der Korrektur bedürfen.
Kontaktlinsen: Mitte des 19. Jahrhunderts erwog der englische Physiker und Astronom John Frederick William Herschel die Möglichkeit, Brechungsanomalien durch Glasschalen, die direkt auf dem Auge liegen, zu korrigieren. 1887 setzte der Zürcher Augenarzt Adolf Eugen Fick diese Idee in die Tat um und entwickelte eine aus Glas geblasene, nach Gipsabdrücken von Leichenaugen geformte Kontaktlinse. 1911 stellte die Firma Carl Zeiss Jena geschliffene Haftschalen aus Silikatglas her. Die großflächigen Sehhilfen saßen auf dem Skleralteil. Sie waren relativ schlecht verträglich und die Bruchgefahr des Glases barg ein Verletzungsrisiko für das Auge. 1935 wurde zunächst Plexiglas zur Linsenherstellung eingeführt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden diese Haftschalen jedoch von Linsen aus Kunststoff verdrängt.8
Hinterkammerlinsen: Heute lassen sich Linsen nicht mehr nur auf das Auge legen, sie sind auch implantierbar. Schon im 18. Jahrhundert kursierte die Idee, bei Grauem Star den getrübten Kern durch eine geschliffene Linse zu ersetzen. Doch erst 1949 gelang es dem englischen Arzt Harold Riley, einer Patientin eine künstliche Linse zu implantieren.9 Seit 1994/1995 werden auch Hinterkammerlinsen eingesetzt. Die Verwendung faltbarer Linsen ermöglicht einen sehr kleinen Schnitt und damit eine rasche Belastbarkeit.
Sensible Schnittstellen
An den Schnittstellen an der Peripherie und im Inneren des Körpers können auch Schmerzen und Entzündungen entstehen oder aufgrund von Abrieb organische Substanz verloren gehen. Im Falle des Kunstbeins des zu Beginn angeführten Landwirts hatte sich der intensive Kontakt zwischen Schaft und Stumpf gelockert, die Prothese saß nichtmehr zuverlässig. Sensible Schnittstellen sind in allen Bereichen der Prothetik zu finden.
Bewegung: Der Gliedersatz muss den Stumpf eng umfangen, weil es sonst zu Bewegungen zwischen Stumpf und Prothese kommt, durch die sich die Kraftübertragungen verschlechtern. Prothesenschäfte werden daher häufig aus Gießharz gefertigt, denn es zeichnet sich durch große Passgenauigkeit aus. Es gewährleistet somit einen engen Kontakt zwischen Prothese und Stumpf (s. Obj. 2).10
Schmerz: Seit 1963 bietet die plastische Chirurgie die Möglichkeit, Silikonimplantate in die Brust einzupflanzen. Ein verbreitetes Problem stellt seit jeher die Kapselfibrose dar. Dabei wird das Implantat durch das schrumpfende Narbengewebe eingeengt. Die Brust wirkt hart, kalt und schmerzt. Weichere Implantathüllen sollten diesem Problem vorbeugen, führten jedoch in den 1990er Jahren zum »Silikon-Desaster« mit weltweit hunderten zerstörten Brustpolstern. Die Implantate erhielten nun eine raue Oberfläche, um die sich die narbige Kapsel in Wellen legen soll, sodass es nicht zu einer Einengung der Brust kommt (s. Obj. 3).11
Gerinnsel: Die erste erfolgreiche Implantation einer künstlichen Herzklappe erfolgte 1960 in den USA. Künstlichen Herzklappen sind seither zu einer der wichtigsten herzchirurgischen Maßnahmen geworden. Einscheiben-Herzklappen, die auch im Bestand des DHMD zu finden sind, werden seit etwa 1977 verwendet. Sie sind unbegrenzt haltbar und verkalken kaum. An den Kanten kommt es allerdings zu Verwirbelungen, durch die sich Thromben (Blutpfropfen) bilden, die Schlaganfälle auslösen können. Patientinnen und Patienten mit solchen künstlichen Herzklappen müssen daher ein Leben lang gerinnungshemmende Medikamente einnehmen.12
- 1. Vgl. Rabinbach, Anson: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001 (Titel der Originalausgabe: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, 1990), S. 12.
- 2. Vgl. Karpa, Martin Friedrich: Die Geschichte der Armprothese unter besonderer Berücksichtigung der Leistung von Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), Diss., Essen 2004, S. 22.
- 3. Vgl. Krieghoff, Rolf: Moderne Werkstoffe und Antriebe im Kunstglied- und orthopädischen Apparatebau, Leipzig 1969, S. 57ff.
- 4. Vgl. Karpa, Martin Friedrich: Die Geschichte der Armprothese unter besonderer Berücksichtigung der Leistung von Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), Diss., Essen 2004.
- 5. Vgl. Gerber-Hirt, Sabine: Gliedmaßen und Gelenke, in: Dies. et al. (Hrsg.): Leben mit Ersatzteilen, München 2004, S. 85–93, S. 91.
- 6. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum (Hrsg.): Sammlung Münchow. Eine Forschungssammlung zur Geschichte der Augenheilkunde, Dresden 2006.
- 7. Vgl. Budde, Marion: Auge, in: Sabine Gerber-Hirt et al. (Hrsg.): Leben mit Ersatzteilen, München 2004, S. 16–29, S. 17f.
- 8. Vgl. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum (Hrsg.): Sammlung Münchow. Eine Forschungssammlung zur Geschichte der Augenheilkunde, Dresden 2006, S. 53.
- 9. Vgl. Budde: Auge, S. 22f.
- 10. Vgl. Krieghoff, Rolf: Moderne Werkstoffe und Antriebe im Kunstglied- und orthopädischen Apparatebau, Leipzig 1969, S. 116f.
- 11. Vgl. von Hesler, Friedrich-Wilhelm: Von Glas, Wolle und Elfenbein bis zum Optimum. Die Entwicklung der Brustimplantate – von der ersten Idee bis heute, in: Sophien-Journal (2010), Nr. 1, S. 4–5. http://www.sophienklinik.de/fileadmin/Dateien/pdf-Dateien/Sj_1–2010_web.pdf (Aufgerufen: 16.12.2013).
- 12. Vgl. Feneberg, Barbara/Rathjen, Walter: Innere Organe, in: Sabine Gerber-Hirt et al. (Hrsg.): Leben mit Ersatzteilen, München 2004, S. 66f., 78.